Dienstag, 19. Dezember 2023

"Das Leuchten der Rentiere" von Ann-Helén Laestadius


Rentiere werden von den allermeisten Menschen mit der Weihnachtszeit assoziiert, sind es doch im amerikanischen Kulturkreis die Rentiere (allen voran “Rudolph mit der roten Nase”), die den Schlitten des Weihnachtsmannes ziehen. Laut Wikipedia sieht die Realität der Rentiere allerdings ein bisschen weniger “weihnachtsromantisch” aus. Der Klimawandel und die Wilderei sind heutzutage die schlimmsten Feinde der Rentiere, die in den nördlichen Polargebieten heimisch sind. Von dieser Problematik der bedrohten Rentiere handelt der Roman “Das Leuchten der Rentiere” von Ann-Helén Laestadius, der im schwedischen Original “Stöld” und auf Englisch “Stolen” heißt. Ins Deutsche wurde der Roman von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt übersetzt, herausgegeben von Hoffmann und Campe.

Der Roman spielt in und um Jokkmokk (Nordschweden), einem Zentrum der samischen Kultur in der historischen Provinz Lappland. Wir befinden uns zunächst im Jahr 2008 und erfahren, wie die neunjährige Elsa, die mit ihrer Familie in Dálvi lebt, den Verlust ihres ersten eigenen Rentiers Nástegallu verkraften muss, das von einem Wilderer absichtlich getötet wurde. Die Tochter eines Rentierhalters hat zwar einen älteren Bruder (Mattis), weiß aber schon früh, dass sie selbst der samischen Kultur treu bleiben und Rentierhalterin werden möchte. Die restlichen Ereignisse spielen sich zehn bis elf Jahre später ab, als Elsa bereits erwachsen ist, die Täter von damals aber immer noch frei herumlaufen…

Ich habe mich noch nie zuvor mit dem Volk der Samen und ihrer Kultur befasst, daher hat mir dieser Roman eine ganz neue Welt aufgezeigt. Ich habe sehr viel Neues gelernt und war schockiert zu erfahren, dass sowohl die Samen als auch die Rentiere so vielen Bedrohungen durch Menschen ausgesetzt sind, vom Klimawandel ganz zu schweigen. Und hier möchte ich gleich eine Triggerwarnung aussprechen zum Thema Tierquälerei. Ich wusste zwar in etwa um was es im Buch geht, aber dass diese Stellen, in denen die Rentiere zu Tode gequält werden, so explizit ausgearbeitet sind, hat mich ziemlich geschockt. Tatsächlich sind Cover und Titel der deutschen Ausgabe auch eher romantisch angehaucht. Während der schwedische Originaltitel sowie die englische Ausgabe ein grafisch zerschnittenes Rentier zeigen, trotten die Rentiere auf der deutschen Ausgabe friedlich durch eine vom Polarlicht geflutete Schneelandschaft. Der aufgrund des sich wandelnden Klimas z.B. im Februar ausbleibende Schnee ist auch ein wichtiges Thema im Buch. Auch der Titel “Das Leuchten der Rentiere” weist nicht darauf hin, um was es hier wirklich geht: Um zu Tode gequälte Tiere, deren Überreste blutig zur Schau gestellt werden. Von der Polizei werden sie als “gestohlen” (deswegen der Originaltitel) klassifiziert, also als Sache, nicht etwa als ermordete Lebewesen. Extremer Rassismus (hier den Samen gegenüber), drohende Fehlgeburt und Suizid sind weitere vorkommende Trigger-Themen, die ich erwähnt haben möchte.

Dieses Buch ist also keine fröhliche Fahrt mit dem Weihnachtsmannschlitten, sondern eine ziemlich ernste Angelegenheit. Elsa ist eine starke Protagonistin, die sich ihren Platz in der Männerwelt der Rentierhalter wie selbstverständlich erobert, obwohl ihr allerhand Steine in den Weg gelegt werden. Das Unrecht, das ihr, den Rentieren und den Samen angetan wird, ist schwer zu ertragen. Die Tatsache, dass ein sinnloses Töten von Tieren nicht als Mord gilt, ist auch in “Gesang der Fledermäuse” von Olga Tokarczuk Thema gewesen, das ich kürzlich gelesen habe. Irgendwie lässt mich dieses Thema nicht los.

Ich kann “Das Leuchten der Rentiere” allen empfehlen, die sich bewusst mit dieser blutigen Realität auseinandersetzen wollen. Ein zweifelsohne wichtiger Roman über Schuld und Sühne sowie das problematische Verhältnis zwischen Mensch, Tier und Umwelt.

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