Zunächst möchte ich sagen, ich bin froh, dass es nicht nur die ganz schweren Themen sind, die einem Roman den Deutschen Buchpreis einbringen. Das hat der Gewinner Tonio Schachinger dieses Jahr mit seinem Bildungs- und Entwicklungsroman 2.0 “Echtzeitalter” bewiesen. Natürlich stimmt es nicht ganz, dass es in diesem Roman keine so genannten schweren Themen gibt. Während der Handlung und ziemlich in der Mitte von Tills Schulzeit am Wiener Privatgymnasium “Marianum”, ereignet sich der Tod von Tills Vater. Allerdings steht nicht die Trauerbewältigung im Zentrum des Buches, sie ist nur ein Teil des Ganzen. Etwas, das Till während der Schulzeit quasi wie nebenbei zusätzlich bewältigen muss, wie so viele andere Jugendliche in seinem Alter. “Echtzeitalter” ist vor allem ein nach klassischem Muster gestrickter Adoleszenzroman, der in den 2010er Jahren spielt. Am Ende, zu Beginn der “Corona-Zeit” 2020, macht Till seinen Abschluss.
Im Roman geht es am Beispiel des Protagonisten Till um den Problemparcours der privilegierten Jugendlichen der Wiener Oberschicht. Das Marianum (der Autor Tonio Schachinger ist auf das Theresianum gegangen) ist ein “Halbinternat”, wo die SchülerInnen bis zum späten Nachmittag und auch samstags auf die Matura (Abitur) vorbereitet werden. Till spielt das Computerspiel “Age of Empires 2” und erlangt darin während seiner Schulzeit Profi-Status. Das Buch stellt also die Frage, wie schlimm ist die Schulzeit an einem Elitegymnasium? Und: Kann man parallel dazu eigene Interessen verwirklichen und eine eigenständige Persönlichkeit ausbilden?
Ein weiteres Kernthema ist die Literaturrezeption an Gymnasien bzw. das Aufeinandertreffen pubertierender Jugendlicher mit Hochliteratur. Vermittelt durch die Erz-Nemesis der Schüler, Deutsch- und Französischlehrer Dolinar, dem man zugute halten muss, dass er tatsächlich mit den Schülerinnen hauptsächlich die Klassiker der deutschen, österreichischen und französischen Literatur liest, statt andere Inhalte im Unterricht zu behandeln. Ungewöhnlich in der heutigen Zeit. Tonio Schachinger ist selbst studierter Germanist, wollte sogar Lehrer werden, wie er bei der Lesung erzählt hat, an der ich teilgenommen habe. Und weil sich das - im Wortsinne, kein Zitat - masochistisch angefühlt habe, habe er es gelassen. Dennoch merkt man “Echtzeitalter” an, dass hier jemand sitzt, der seine Klassiker (von denen manche in Deutschland eher in keinem Literaturkanon zu finden sind, wie der moderne Austro-Klassiker Franz Innerhofer) und Klassikerinnen (Marie von Ebner-Eschenbach!) wirklich gelesen hat und sich nicht nur die Zusammenfassungen im Internet angesehen hat. (Auch wenn er die Jane-Austen-Romane und Verfilmungen an einer Stelle etwas falsch zusammenwürfelt). Durch die häufige Erwähnung von Thomas Bernhard gibt es sowieso einen Extrapunkt von mir.
Da der Roman in Wien spielt und der Autor Wiener ist, begegnen uns viele österreichische Ausdrücke (“ur”), Befindlichkeiten, Eigenheiten und politische Ereignisse, wie z.B. der “Strache”-Skandal, der im Jahr 2019 die erste Regierung von Kanzler Kurz zu Fall brachte. Vor allem Tills “Love Interest” Feli (die Freundinnen Fina und Feli waren beim Lesen teils sehr schwer auseinanderzuhalten) kennt ihr Land sehr gut und schreibt darüber im Laufe der Handlung die ein oder andere Abhandlung.
Wer den Roman jetzt seinen pubertierenden, PC-Games-spielenden Jugendlichen zu Weihnachten schenken wollen würde, dem gebe ich zu bedenken, dass das Rauchen in der Handlung eine zentrale Rolle spielt. Es wird ständig geraucht und teilweise fühlt man sich wie in einer TV-Diskussionsrunde der 1970er Jahre, bei der unter anderem Helmut Schmidt zugegen ist. Das Rauchen wird keinesfalls kritisch gesehen, auch die sonst politisch sehr bewusste Feli, die u.a. Veganerin ist, frönt dem ungesunden Laster ausgiebigst. Als jugendlicher Akt der Rebellion erscheint mir dies ziemlich veraltet, sind die meisten Jugendlichen heutzutage doch bestens über die ungesunden Nebenwirkungen des Rauchens aufgeklärt und auch nicht mehr so von rauchenden Erwachsenen umgeben, wie das früher der Fall war.
Es war dennoch für mich interessant, mal wieder in die Psyche von Jugendlichen abzutauchen. Auch wenn man schon länger eine erwachsene Person ist, schadet es nicht, hin und wieder einen Adoleszenzroman zu lesen. Ohne Zweifel ist Tonio Schachinger mit “Echtzeitalter” ein sehr guter Roman gelungen. Ob er der verdiente Sieger des Deutschen Buchpreis 2023 ist, kann ich nicht sagen, da ich die anderen Nominierten nicht gelesen habe.
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