Sonntag, 3. Dezember 2023

"Gesang der Fledermäuse" von Olga Tokarczuk

"Gesang der Fledermäuse” ist der erste Roman, den ich von der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk gelesen habe. Nach der Lektüre kann ich sagen: Sie hat ihn absolut zurecht bekommen. Ich habe lange keine so gute Figurenzeichnung mehr gelesen, kein so perfektes Setting, kein im Ganzen bis ins kleinste Detail so stimmiges literarisches Werk. 

Wir begleiten im Roman eine Ich-Erzählerin, die sich mit ihrem bürgerlichen Namen Janina Duszejko nicht identifizieren kann, auf einem Stück ihres Lebensweges, den sie aus der Retrospektive vor uns ausbreitet. Sie ist nicht mehr die Jüngste, wird als “die Alte” wahrgenommen. Vom Gefühl her dürfte sie aber nicht älter als Mitte sechzig sein. Eine genaue Altersangabe verweigert uns der Roman. Sie lebt alleine in einem Haus auf einem Hochplateau an der Grenze zwischen Polen und Tschechien in einem Dorf, das sie selbst “Lufcug” (Luftzug) nennt, weil der Wind dort das tonangebende metereologische Phänomen ist. Im Sommer leben hier viele Städter aus Glatz und Wrocław (Breslau) in Ferienhäusern, im Winter ist es fast verwaist. Sie passt dann auf die leerstehenden Ferienhäuser auf und unterrichtet eine Grundschulklasse in Englisch. Ihre Lieblingsbeschäftigungen sind das Lesen und Übersetzen der Texte des englischen Dichters und Mystikers William Blake sowie das Erstellen von Horoskopen. Nicht nur Letzteres macht die Erzählerin zu einer Person, die von den meisten belächelt wird. Es ist auch noch ihr inniges Verhältnis zu Tieren und ihr Vegetarismus, die bei vielen Mitmenschen anecken. Als sie und ihr Nachbar Matoga (den sie mag) den ihr unsympathischen gemeinsamen Nachbarn Bigfoot - die Erzählerin verweigert nicht nur ihren eigenen Namen, sie gibt auch den Menschen, mit denen sie zu tun hat, meist von ihr erfundene Namen, die ihrer Meinung besser zu ihnen passen - tot in seinem Haus auffinden, nehmen die Ereignisse ihren Lauf. 

Alle Figuren des Romans sind auf die ein oder andere Weise körperlich versehrt. Die Ich-Erzählerin spricht von ihrem Leiden, was es ihr schon früh unmöglich machte ihren gelernten Beruf Brückenbauingenieurin auszuüben. Sie umschreibt es, ohne es wirklich zu benennen. Im Laufe der Handlung ist sie körperlich immer stärker eingeschränkt. Wie gesagt sind auch die anderen, sie umgebenden Figuren in irgendeiner Weise gesundheitlich angeschlagen: Sie haben: Allergien (Dyzio), Skoliose (Gisella), Alopezie (Buena Noticia), Hexenschuss (Matoga). Als sie sieht, dass auch der Entomologe Boros Tabletten nehmen muss, sagt sie: “Gut, dass auch er ein Leiden hatte. Die Gesundheit ist ein ungewisser Zustand, der nichts Gutes verheißt.”

Dieser Roman ist unfassbar originell, total witzig und zutiefst erschütternd zugleich. Wir haben eine unzuverlässige Ich-Erzählerin, die von der Welt nicht ernst genommen wird, sich aber auf ihre Weise Gehör verschafft. Das Ganze als lesende Person zu beobachten fühlt sich fast voyeuristisch an, denn wir bekommen einen äußerst tiefen Einblick in die differenziert ausgearbeitete Psyche der Erzählerin. Tokarczuk stellt in ihrem Buch grundlegende philosophisch-moralische Fragen, wie z.B. dürfen wir als Menschen Tiere ausbeuten oder ist das moralisch gesehen nicht höchst verwerflich? Ist das Töten von Tieren nicht mit dem Massenmord an Menschen gleichzusetzen? Warum erheben wir uns über die Tiere, obwohl wir ihnen nur die Sprache und unser komplexes Gedankensystem voraus haben? Darf der Mensch generell die Natur ausbeuten (Stichwort: Klimawandel)? 

Als Mensch, der schon seit der Kindheit kein Fleisch ist, konnte ich mich sehr gut mit der unkonventionellen Ich-Erzählerin identifizieren. Zudem mag ich Bücher, in denen trotz aller Schwere der Thematik auch Humor als Stilmittel zum Einsatz kommt. Tokarczuk hat einen sehr trockenen Humor.

"Gesang der Fledermäuse” ist ein faszinierender Appell an die Menschlichkeit in uns allen, ein wahrhaft großer Roman und bestimmt nicht das letzte Buch, das ich von Olga Tokarczuk gelesen haben werde.

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