Dienstag, 4. Juni 2024

"Auf allen vieren" von Miranda July


Von "Auf allen vieren” von Miranda July (Übersetzung Stefanie Jacobs) musste ich mich erstmal erholen, bevor ich darüber schreiben konnte. Ich hatte komplett falsche Erwartungen und dachte, es wäre ein Roman, der sich mit der physischen und psychischen Transformation einer 45-jährigen Frau auseinandersetzt, die in die Wechseljahre mit einem existenziell bedeutsamen Roadtrip hineinschlittert. Das ist es zwar schon irgendwie im Kern, aber der Fokus wurde fast hauptsächlich auf den s*xuellen Aspekt dieser Lebensphase gelegt. Leider auf eine sehr unangenehme, pornöse Art und Weise, die mir angesichts der expliziten Beschreibungen viel zu viel war.

Ich will nicht zu viel von der Handlung preisgeben, weil sie so viele Überraschungsmomente enthält, die ihr am besten selbst entdeckt. Nur so viel: Eine etablierte Medienkünstlerin (45) und namenlose Ich-Erzählerin möchte sich eine zweieinhalbwöchige Auszeit nehmen, ihren Mann und ihr siebenjähriges Kind in deren Zuhause in Malibu lassen und quer durch die USA nach New York mit dem Auto fahren, dort 6 Tage die Metropole genießen und wieder heimfahren. Doch es kommt alles anders als sie denkt: Kurz nach Los Angeles begegnet sie dem attraktiven 31-jährigen Davey und das Damoklesschwert Wechseljahre mit Bonustrack Östrogenabfall senkt sich immer tiefer auf sie herab. Wird sie eine Affäre haben und den Rest ihres Lebens davon zehren?

Aufgrund der Parallelen zwischen der Ich-Erzählerin und der Autorin kann man davon ausgehen, dass es sich hier um ein weitgehend  autofiktionales Buch handelt. Welche Teile davon wirklich der Realität entsprechen, weiß wohl nur sie selbst. Autorin und Ich-Erzählerin sind jedenfalls beide bisexuelle Künstlerinnen, in Amerika relativ bekannt (die Ich-Erzählerin bezeichnet sich als “B-Promi”), sie haben beide einen im Medienbusiness erfolgreichen Ehemann und ein nonbinäres Kind. Diesen letztgenannten Aspekt fand ich beispielsweise sehr interessant, darüber liest man viel zu selten etwas. An die Verwendung der nonbinären Pronomen “dey/demm/deren” habe ich mich sehr schnell gewöhnt. Allerdings wird das alles nur anerzählt und ich hätte sehr gern mehr dazu erfahren. Sie schreibt irgendwann, dass ihr Kind Sam vielleicht selbst Östrogene bräuchte irgendwann und da könnte man vielleicht daraus schließen, dass das Thema Transsexualität im Raum steht. Allerdings wird das nicht wirklich klar und überhaupt fand ich wurde viel zu wenig auf die Bedürfnisse von Sam geachtet. Dey müssen das kapriziöse Verhalten und letztlich den Egotrip von deren Eltern, vor allem der Mutter, einfach hinnehmen. Klar kann man auch Eltern sein und Mensch bleiben, aber das was hier abgeht war mir in dem Zusammenhang einfach viel zu egozentrisch.

Ich mochte den ersten Teil, in dem sich die Geschichte aufbaut, am liebsten. Hier geht es wirklich noch um existenzielle Fragen und die Protagonistin versucht sich an den neuen Lebensabschnitt anzunähern: “Das könnte der Wendepunkt meines Lebens werden. Falls ich neunzig wurde, hatte ich jetzt genau die Hälfte. Oder wenn man es als zwei Leben betrachtete, stand ich jetzt am Beginn meines zweiten.” (S. 23) Die etwas “schräge” Persönlichkeit konnte man in diesem Anfangsteil noch als “verschroben/liebenswert besonders/witzig” abtun. Ihre Einfälle sind nämlich stellenweise sehr originell und man fliegt zeitweise förmlich durch die Geschichte. Als das Buch dann allerdings seinen Höhepunkt überschritten hat, geht es leider erzählerisch - wie beim Östrogenabfall - nur noch bergab. Jedenfalls empfand ich das so. Es wurde zunehmend unangenehm, denn die Protagonistin hatte quasi in jeder zweiten Szene die Hand zwischen ihren Beinen. Kann man machen, muss man aber in einem literarischen Roman für meinen Geschmack nicht, zumindest in der Frequenz. Spätestens bei der Szene mit der Inzest-Fantasie bin ich dann komplett ausgestiegen, da hat die Autorin für mich den Bogen überspannt und ich habe den ganzen Roman immer mehr in Frage gestellt.

Allein aufgrund meines Alters, das sich dem der Protagonistin unaufhaltsam nähert, interessieren mich Romane über die mittleren Lebensjahre/Midlife Crisis/Wechseljahre immer mehr. Hier war es aber sehr schwer, sich mit der exzentrischen Protagonistin zu identifizieren. Außerdem ist dieses Buch aus einer sehr elitären Perspektive in Bezug auf die Ich-Erzählerin heraus geschrieben. Sie ist erfolgreiche freischaffende Künstlerin, finanziell absolut unabhängig. Auch ihr Mann, in dessen Villa in Malibu sie leben, verdient gutes Geld als Musikproduzent. Sie hat soeben zwanzigtausend Dollar für einen einzigen Werbespruch bekommen, die sie jetzt ganz dekadent allein auf den Kopf hauen darf. Ihr Road Trip aka Selbstfindungstrip ist purer Luxus, den sie sich einfach mal zur Feier der Mitte ihres Lebens gönnen darf. Hier spricht eine privilegierte Frau über ein Leben, das gefühlt keine Grenzen kennt. Natürlich hat auch sie Traumata, vor allem die Horror-Geburt von Sam, erlebt, aber sie kann sich zu deren Überwindung die besten Therapeut:innen leisten und hat familiären und freundschaftlichen Rückhalt (vor allem ihre beste Freundin und ihren esoterisch-philosophisch angehauchten Vater). Nicht dass das die Traumata besser oder schlechter machen würde, aber für die Durchschnittsperson dürfte das alles deutlich schwieriger sein. 

Ein Roman, den sicher sehr viele feiern und feiern werden. Ich persönlich kann mich leider nicht in diese Stimmen einreihen, aber macht euch bei Interesse natürlich gerne selbst ein Bild. “One (wo)man's trash is annother (wo)man's treasure”, wie man so schön sagt. 😉

Herzlichen Dank an Kiwi Verlag für das Rezensionsexemplar!

Hier geht es zum Buch.

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