Donnerstag, 20. Juni 2024

"Bolla" von Pajtim Statovci


“...the sensation as I kiss his neck, the person I am as I smell his hair, the gazes we cast upon each other, the taste of beer left on the balcony table, the way our lips touch right there in the flames of the fading evening, it will never end, even if there's nothing left of it by morning.” (65)

Wenn ihr euch die tragischste Liebesgeschichte aller Zeiten vorstellen müsstet, dann denkt ihr, wenn ihr “Bolla” von Pajtim Statovici (aus dem Finnischen ins Englische übersetzt von David Hackston) gelesen habt, bestimmt nicht mehr an Romeo und Julia, sondern nur noch an Miloš und Arsim! Eine extrem tragische, unendlich traurige Liebesgeschichte mit zwei “star-crossed lovers”, die mir für immer in Erinnerung bleiben werden. 

Sie lernen sich zur falschen Zeit am falschen Ort kennen - oder war es genau der Richtige, weil sie sich woanders nie kennengelernt hätten? 

Pristina, Kosovo, 1995. Ganz Kosovo ist besetzt von serbischen Truppen, der Krieg lauert am Horizont, viele Albaner fliehen aus dem Land, das keine Zukunft mehr zu verheißen scheint. Auch der 25-jährige Student der Geisteswissenschaften, Arsim, ist Albaner. In einem Café lernt er den ein Jahr jüngeren Medizinstudenten Miloš kennen - einen Serben. Sie verlieben sich ineinander und beginnen eine heimliche Beziehung. Nicht nur ist Homophobie im damaligen zerrütteten Jugoslawien allgegenwärtig, auch die Feindschaft und die alltäglichen Spannungen zwischen Albanern und Serben befinden sich auf einem Höhepunkt. Zudem kommt, dass Arsim frisch verheiratet ist und seine Frau Ajshe ein Kind erwartet. Doch die Anziehung von Miloš und Arsim ist stärker als alle Widerstände und sie genießen den einen Sommer, der ihnen vergönnt ist. Bis sich ihre Wege wieder trennen - für immer?

Der Text ist heftig. Die genauen Beschreibungen des Massakers von Zivilisten im Krieg sind definitiv nichts für sensible Gemüter und ich musste diese Stellen ein wenig “überlesen”, um nicht in eine extrem depressive Stimmung zu verfallen. “Bolla” ist zum einen ganz klar ein Antikriegsroman. Er zeigt, wie Krieg und die daraus resultierenden Traumata einen Menschen - in diesem Fall Miloš - zerstören können, so dass er nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Das Beispiel von Arsim zeigt, was Entwurzelung und das Leugnen der eigenen Identität mit einem machen. Er, aus dessen Ich-Perspektive das Geschehen erzählt ist (von Milos gibt es immer wieder zwischengeschaltete Textpassagen), ist kein sympathischer Protagonist. Und das ist besonders bezeichnend, denn einen Antihelden zu erschaffen, mit dem sich die Lesenden dennoch identifizieren können, ist definitiv kein Kinderspiel. Arsim ist egoistisch, weil er ein Doppelleben führt. Er ist gewalttätig gegenüber seiner Frau und seinen Kindern. Er hat oft Gedanken, die nicht gerade menschenfreundlich sind. Er möchte eigentlich nur Schriftsteller und mit Miloš zusammen sein, er kann und darf es aber nicht. Die Tragik dieses Lebens, das er führt, ist abgrundtief und schwer zu ertragen - auch für die Lesenden.

Trotz der Schwere der Thematik mochte ich dieses Buch, denn es ist einfach brillant. Das Motiv der Schlange (Bolla) bzw. des verlorenen Paradieses zieht sich leitmotivisch durch den Roman (man denke nur an Miloš’ Leidenschaft für Äpfel) und macht es auch für semiotisch interessierte Lesende sehr interessant. Die klare und dennoch poetische Prosa hat mir unglaublich gut gefallen, natürlich auch mit ein Verdienst des Übersetzers. Ich möchte jetzt unbedingt noch mehr von Pajtim Statovici lesen, vielleicht auch die Sachen, die bereits auf Deutsch übersetzt wurden. “Bolla” ist bislang (Juni 24) nur auf Englisch erhältlich.

Triggerwarnungen: Krieg, Beschreibungen von extremer Gewalt, Inzest, Missbrauch, Homophobie, psychische Krankheit, etc.

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