Historische Bergeinsamkeit und seltsame Bräuche
“Der Major seufzte leise. In diesem Dorf lebten entschieden viel zu viele unverheiratete junge Menschen. All die verstohlenen Blicke, die hier getauscht wurden, entfachten immer neue Spekulationen in seinem Kopf, die immer wieder auf dieselbe Frage hinausliefen: Welches Geheimnis war so gefährlich, welche Leidenschaft so zerstörerisch, dass am Ende dieser geflüsterten Worte und verhüllten Gesichter ein Mord stand?” (S. 219)
Bisher habe ich alle Romane um Major Wilhelm von Gryszinski, dem preußischen Polizeibeamten, der in Bayerns Hauptstadt ermittelt, mit großer Begeisterung “verschlungen”. Auch seine Familie (die schreibende Ehefrau Sophie und der kleine Sohn Fritz) sowie sein gesamtes Umfeld im München des Fin de Siècle um 1900 sind mir mit den Jahren bzw. den Büchern ans Herz gewachsen. Während es im letzten Gryszinski-Roman “Der treue Spion” sogar bis Paris und ins russische Zarenreich ging, entführt uns Uta Seeburg in “Der echte Krampus” in eine verschneite, märchenhafte Bergeinsamkeit, die ihresgleichen sucht. Gryszinski macht nach vielen Jahren zum ersten Mal einen mehrwöchigen Urlaub mit seiner kleinen Familie. Die exzentrische adelige Wiener Freundin Gräfin Wurmbrand hat sich ein mondänes “Ferienhaus” - wie man heute sagen würde - in den Bayerischen Alpen geleistet. Es geht also für die Gryszinskis in das kleine (fiktive) Alpendorf Berghall in der Nähe von Bad Reichenhall. Kaum ein Tag in der Adventszeit vergeht hier, ohne dass ein (vor-)weihnachtliches Brauchtum von der Dorfgemeinschaft ausgeführt wird, dem die freigeistigen und protestantischen Gryzsinskis mit Erstaunen und teilweise auch Entsetzen beiwohnen. Denn manche Bräuche haben es in sich. Zum Beispiel der martialische Krampuslauf, in dem die jungen Männer des Dorfes sich als böse Begleiter des Nikolaus verkleiden und die Dorfbewohner*innen in Angst und Schrecken versetzen. Just bei diesem Krampuslauf am Abend des 5. Dezember geschieht ein Mord - einer der Krampusse wird erstochen. Und Gryszinski? Muss den langersehnten Winterurlaub mit kniffligen Ermittlungen teilen. Ob das gut geht?
Was wirklich fast einzigartig ist - sowohl für einen historischen als auch einen zeitgenössischen Krimi - ist zum einen die extrem hohe Zahl an Verdächtigen, die im ersten Drittel des Buches vor uns auf Gryszinskis Ermittlungsnotizen liegt. 19 junge Männer sind verdächtigt, am Tod von Gregor Kroiß, einem der Krampusse, schuldig zu sein. Und dann kommen theoretisch auch noch weitere Personen hinzu, die es gewesen sein könnten. Zum anderen birgt die Tatsache, dass die meisten Verdächtigen am Tatabend nicht sie selbst, sondern Krampusse waren, einen ungeheuren Spannungs-Effekt, der gruselig-zotteligen Ganzkörperverkleidung sei Dank! Außerdem liefern die enormen Schneemassen großes erzählerisches Potenzial: Tatwaffen können nicht so leicht “entsorgt”, die Toten bis zum Frühjahr nicht begraben werden. Auch Gryszinski macht im Laufe der Handlung Bekanntschaft mit der Unbarmherzigkeit der winterlichen Wetterlage - grandios komponiert von Uta Seeburg.
Ein wirklich meisterhafter Krimi, den ich trotz der aufgelösten “Krimi-Handlung” bestimmt in einigen Jahren ein zweites Mal lesen werde. Einfach weil er uns in diese historische Bergeinsamkeit versetzt, an der ich alles irgendwie geliebt habe und vor der ich mich nur sehr schwer wieder trennen konnte. Für mich der beste Gryszinski-Roman bislang.
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