Samstag, 6. September 2025

"Der Tod in Venedig" von Thomas Mann


“Amor fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und der Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten.” (Thomas Mann: Der Tod in Venedig, 1911)

Sind wir nicht alle ein bisschen wie Gustav von Aschenbach? Suchen wir nicht alle den Sinn im Leben, das Schöne, das 3D-gewordene Glück? Und wenn wir dem Erhabenen dann begegnen, sind wir nicht total durch den Wind und wissen nicht, was wir denken und fühlen sollen. Sind überfordert von so viel Größe, so viel Schönheit? 

Der gesettelte Münchner Schriftsteller von Aschenbach ist einfach jeder Sterbliche und der junge hübsche polnische Junge Tadzio jedes Begehren. Venedig hingegen steht stellvertretend für das Universum, in dem uns alles passieren kann - Glück und Unglück, Extase und Verderben. In dem alles erstmal neutral ist und in dem wir die Zeichen nicht ignorieren und die uns von zwielichtigen Händlern angebotenen roten Früchte lieber nicht essen sollten. 

Das sind so meine Gedanken und Feststellungen, 25 Jahre nach der Erstlektüre dieser bildreichen Geschichte über den Tod in Venedig und über eine unerfüllte, einseitige Liebe, die keine sein darf. Außerdem habe ich gerade erst einen frischen Eindruck von der märchenhaften Lagunenstadt, für deren Besuch ich Thomas Manns Manns Novelle extra in den Rucksack gepackt habe (ein Rucksack kommt sogar ganz am Anfang darin vor, getragen von dem ersten Todesboten, den Aschenbach auf dem Münchner Friedhof trifft).

Jedes Mal, wenn ich wieder Thomas Mann lese, stelle ich fest, was für ein exzellenter Erzähler er ist. Ich bin verzaubert davon, wie er es schafft, eine Atmosphäre und ein Motivgeflecht zu spinnen, das mir unerreicht scheint. Thomas Mann wird nicht ohne Grund “Der Zauberer” genannt, denn er hat auch im Jahr 2025 nichts von seiner Erzählmagie eingebüßt. Auch heute habe ich mir wieder neue Sätze angestrichen, was gar nicht so einfach ist, denn mein Schulexemplar strotzt nur so vor Markierungen und Anmerkungen. Aber es ist schon faszinierend, dass ich heute scheinbar andere Aussagen wichtiger finde als damals (natürlich gibt es auch Überschneidungen).

Ich kann euch nur eins raten: Statt eure wertvolle Lebens- und Lesezeit gehypten Starautor*innen zu widmen, deren Werke nicht mal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, macht doch einen Reread eines geliebten Klassikers. Ich werde es auch wieder öfter tun und gleichzeitig noch sorgfältiger auswählen, was ich zum ersten Mal lese.




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