Donnerstag, 11. September 2025

"Lázár" von Nelio Biedermann


Man kann über “Lázár”, diesen klassisch anmutenden Roman, nicht sprechen, ohne auf das geringe Alter seines Autors hinzuweisen - er ist gerade mal 22. In diesem Alter diese Wortgewandtheit, diese Lebensweisheit zu besitzen, um solch einen generationenübergreifenden historischen Roman von besonderer Tragweite zu verfassen, ist ungewöhnlich. Nicht nur seine Schreibweise, die hier zutage tritt, vereint Biedermann mit so manchen klassischen Persönlichkeiten der deutschen Literatur wie Thomas Mann oder Theodor Fontane. Sein junges Alter lässt außerdem den Vergleich mit literarisch Frühvollendeten wie Georg Büchner oder Heinrich von Kleist zu. Nelio Biedermann ist ein literarisches Wunderkind - da sind sich viele einig.

Um was geht es nun in “Lázár”, einem Buch, das ohne viel Drumherum auskommt und schlicht und einfach "meiner Familie” gewidmet ist? Erzählerisch hangelt sich die auktoriale Erzählperspektive am Stammbaum der ungarischen (damals noch österreichisch-ungarischen) Familie von Lázár entlang. Beginnend am Anfang des 20. Jahrhunderts begleiten wir die Familie über drei Generationen hinweg durch den ersten und zweiten Weltkrieg bis ins kommunistische Ungarn und schließlich in die Freiheit der Schweiz. Die adelige Familie “verfällt” gewissermaßen wie Thomas Manns Buddenbrooks, da sie aufgrund der politischen Weltlage alles verliert, was ihr an Privileg, Status und Besitz lieb und teuer war. 

Die Handlung beginnt mit der Geburt des Stammhalters von Sándor und Mária, Baron und Baronin von Lazar, Lajos, in deren Waldschloss, dem ländlichen Familiensitz. Wir erfahren, dass Lajos unehelich gezeugt wurde - ein Kind der Liebe zwischen Mária und dem Stallknecht. Überhaupt versucht der Roman die intimen, von der Oberfläche des Anscheins weggewischten Geheimnisse dieser Familie ins Licht zu heben. Dazu gehören: Verrücktheit, Feigheit, aber eben auch sexuelle Begierden und Seitensprünge. In einer anderen Rezension habe ich gelesen, dass die vielen Sexszenen als enervierend und redundant (meine Worte) empfunden wurden. Ich sage: Diese sind genau das, was Biedermann von den Autor*innen der Klassik oder des Realismus, in deren Stil und Ton er sich erzählerisch bewegt, unterscheidet. Natürlich lesen wir zum Beispiel bei Goethe nicht direkt etwas von Geschlechtsteilen oder Selbstbefriedigung, der Akt wird bei Fontane allenfalls durch “…” angedeutet. Bei Biedermann im Jahr 2025 ist das Explizite möglich geworden und meiner Meinung nach auch gut und richtig so. Denn er erzählt niemals reißerisch von dem, was sich unter der Oberfläche des sittlichen Anscheins befindet. Er behandelt seine Figuren mit Respekt und Würde, auch dann, wenn sie nicht würdevoll agieren. Der Mensch besteht eben auch aus dem Menschlichen, dem Dunklen, seinen Begierden und Phantasien.

An einer Stelle wird die Perspektive metafiktional, dort lässt Biedermann eine seiner Figuren über die Funktion eines Schreibenden nachdenken: “Was tut ein Schriftsteller anderes, dachte Eva, als seinen Figuren das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen. Er legt ihnen Kriege in den Weg, schreibt ihnen Depressionen ins Gemüt oder entreißt ihnen ihre erste Liebe.” (S. 289) Ich empfehle den ganzen Absatz, denn er sagt “in a nutshell” alles aus, was man über Biedermanns Schreiben - und vielleicht sogar das Schreiben an sich - wissen muss.

“Lázár” ist ein sehr ernstes Buch, geschrieben in poetischer, aber auch realistisch-nüchterner Prosa, erzählt von einem sehr jungen Autor. Es ist sehr klassisch in seiner erzählerischen Anmutung und gleichzeitig zeitgenössich-modern in dem, was es erzählt. In jedem Fall eine literarische Entdeckung und völlig zurecht ein “Hype-Buch” der Saison.

Herzlichen Dank an den Rowohltverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar!



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.