Sonntag, 17. November 2024

"Hot Mess" von Sophie White


Über Freundschaft und Metal Health

“Jenseits der dreißig ist die Chance, als Frau neue Freundinnen zu finden, in etwa so hoch wie die, einem Serienmörder zum Opfer zu fallen.” (Hot Mess, S.199)

Als unsere Eltern so um die dreißig waren - egal welcher Generation sie angehören - waren Freundschaften noch selbstverständlich. Man hatte einfach Freunde - sie gingen zu Hause ein  und aus, man hat stundenlang telefoniert und sich gegenseitig unterstützt, wenn Not am Mann (oder an der Frau) war. Heutzutage sind Freund:innen ein weiterer Punkt auf der schier endlosen Work-Life-Balance-Liste in unseren Köpfen. Freundschaften müssen “gepflegt” werden, nichts ist mehr selbstverständlich, wir müssen Zeit in sie investieren. Wir müssen sie in Whats-App-Gruppen kategorisieren und in unterschiedlichen Lebensbereichen “ablegen” wie in einem Ordner. Wenn wir nicht aktiv etwas für die Freundschaft tun, verläuft sie vielleicht im Sande, man verliert sich aus den Augen. Allein einen gemeinsamen Termin für ein Treffen zu finden, erweist sich im vollgepackten Alltag aller oftmals als schier unlösbare Herausforderung. 

In “Hot Mess”, das im Jahr 2023 in und um Dublin herum spielt (also wieder ein Irland-Roman, ich habe dieses Jahr schon viele gerne gelesen), gibt es drei weibliche Charaktere, die auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Freundschaft kämpfen. Da wäre zum einen Claire, sie ist Nanny und hat den Verdacht, dass sie in ihrer Freudschafts-Bubble ausgegrenzt wird. Liegt es am unterschiedlichen Werdegang bzw. Bildungsstand bzw. doch an etwas ganz anderem? Als ihre Freundin Aifric (die ich anfangs immer mit Aiofe, der Freundin von Joanne verwechselt habe) sich verlobt, spitzt sich die Situation zu. Dann wäre da also Joanne. Sie ist mit Ende 20 die Erste in ihrem Freundeskreis, die ein Baby bekommt. Dumm nur dass ihre Freundinnen nur wenig Verständnis dafür haben und lieber Party machen und Drogen konsumieren. Bei ihr ist das Thema, wie Mutterschaft die Dynamik in Freundschaften verändert. Last but not least ist da noch Lexi. Sie ist eine Celebrity-Influencerin, die mit ihrer besten Freundin Amanda einen Podcast betreibt. Hier stellt sich die Frage, welchen Einfluss Berühmtheit und Geld auf Freundschaften haben. Auch eine sehr interessante Konstellation.

Allgemein wird bei allen drei Protagonistinnen thematisiert, wie sich Freundschaft im Laufe der Zeit verändert und die Frage gestellt, was Freundschaft überhaupt ist und was sie ausmacht. Ist sie nicht oft mehr mit Tragik und Komplikationen behaftet als die romantische Liebe?

Ich muss sagen, das Buch hat mich positiv überrascht. Ich habe es bis zu einem gewissen Punkt richtig gern gelesen. Der Humor war sehr nuanciert und die Situationskomik niemals überladen und sehr treffend. Ich konnte mich mit einigen Problemen der Protagonistinnen sehr identifizieren - ob es die Struggles einer jungen Mutter kurz nach der Entbindung sind (Joanne) oder das Gefühl des Außenseitertums in einem Freundeskreis (Claire). Lexi ist natürlich als Prominente von ihrer Lebenssituation eher elitär, aber auch bei ihr gab es Aspekte, die einem bekannt vorkamen oder die man zumindest nachempfinden konnte. Leider ist der Roman mit fast 600 (568) Seiten aber dann doch viel zu lang gewesen für meinen Geschmack und den Plot, der an manchen Stellen zu sehr gedehnt wurde.

Ich muss jetzt etwas spoilern, um mit der Rezension abschließend nochmal in die Tiefe gehen zu können. Eine der Protagonistinnen in diesem Buch hat eine psychische Erkrankung (Triggerwarnung). Es ist also ein Roman, der die Themen Freundschaft und Mental Health miteinander verbindet. Bei diesem Buch steht die Triggerwarnung erst ganz am Ende, sowohl in einfacher Form, als auch in Form eines sehr persönlichen Briefes der Autorin an ihre Leser:innen. Ich wünschte, ich hätte dies am Anfang gelesen, denn meine älteste Freundin hatte ebenfalls die Erkrankung, die im Roman geschildert wird. Bei ihr ist es leider nicht gut ausgegangen und ich bin so eine Freundin, die nicht helfen konnte. Allerdings wusste ich auch nichts von ihrer Erkrankung. Deswegen ist es so wichtig, darüber zu sprechen. Natürlich wird man die belastenden Gedanken daran nie wirklich los, aber es tut gut, darüber zu reden. Reden ist immer gut. Und wenn man den “Brief an meine Leser:innen” der Autorin gelesen hat, versteht man sehr gut, welche Relevanz das Thema auch für sie hat. 

Fazit: Ein unheimlich wichtiger Roman über Freundschaft und Mental Health, der nur manchmal an leichte “Chick-lit” erinnert. Übersetzt aus dem irischen Englisch von Alexandra Kranefeld. 

Herzlichen Dank an Pola Stories und Bloggerjury für das Rezensionsexemplar!


Montag, 11. November 2024

"Dino Moms" von Naomi Wood


Moderne Mütter in Ausnahmezuständen

Seien wir doch mal ehrlich: Wir Mütter stehen am Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette. Was ziemlich paradox ist, denn Mütter sind die Basis der Gesellschaft, wenn sie ausfallen, gerät auch alles andere ins Wanken. Selbiges gilt leider auch für “arbeitende Mütter”, also solche, die neben dem (unbezahlten) Beruf des Erziehens und Betreuens der eigenen Kinder noch einem “richtigen” Beruf nachgehen, also einem, der Geld einbringt. Sie leisten schier Übermenschliches und werden doch oft in ihren beiden Lebensumfeldern als unzureichend wahrgenommen. Von der Arbeit müssen sie oft verschwinden, weil das Kind krank ist, sind nicht Teil der wichtigen Absprachen, wenn sie fehlen und zu Hause in den Krabbelgruppen sagen ihnen die “Besserwissermütter” wie wichtig es ist, rund um die Uhr für sein Kind da zu sein. Und der Haushalt will auch noch gemacht werden, Zeit mit dem Partner/der Partnerin? Oft nicht vorhanden und laut Instamoms und Frauenzeitschriften doch soooo essenziell für eine gesunde Beziehung. Vor allem aber zerbrechen Mütter oft an den hohen Erwartungen, die sie an sich selbst richten.

In “Dino Moms” geht es, wie der Titel schon nahelegt, um Mütter und zwar die Mütter unserer Zeit. Die neun Geschichten, die hier in einem Buch zusammengefasst sind, handeln von verschiedenen jungen Müttern im Großraum London in unterschiedlichen Stadien ihres Mutterseins: Erstschwangere, Mütter mit einem oder mehreren Kindern und Schwangere, die schon mehrere Schwangerschaften und Fehlgeburten (Triggerwarnung!) hinter sich haben. Alle Geschichten spielen ungefähr zur Zeit der Corona-Pandemie, in einer Geschichte (“Flatten the curve”) geht es explizit um die Zeit des Lockdowns im Jahr 2020. Mit dieser Geschichte konnte ich mich am meisten identifizieren, einfach weil wir alle im selben Boot saßen und die gleichen Probleme hatten. Es war eine surreale, besondere Zeit und ich freue mich, dass ich sie in den letzten Jahren öfter literarisch verarbeitet finde.

Die Geschichten ähneln sich alle, aber nicht nur aufgrund des übergeordneten Themas Mutterschaft und “female rage”. Die meisten hier beschriebenen Frauen stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens oder sind mit außergewöhnlichen Ereignissen konfrontiert. Wie die Horrorfilmregisseurin, der aufgrund ihrer eigenen Schwangerschaft ihre Muse abhanden kommt (sie wechselt zu einem männlichen Regisseur). Oder die Frau, deren Exfreund und Vater ihres Kindes - er hat sie verlassen als die Tochter 4 Monate alt war - nun eine andere heiratet und die “Neue” möchte nun die Tochter des Paares als Brautjungfer haben.

In der ersten Geschichte “Leseley in Therapie”, die ich für eine der stärksten halte, geht es um die eingangs beschriebene Zerrissenheit der Mütter angesichts des gesellschaftlichen Diktats, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Lesley kehrt nach der Elternzeit als Game-Designerin zurück in den Job und muss feststellen, dass sie dort nicht mehr gebraucht wird, während ihr Baby jedes Mal weint, wenn es in die Betreuungseinrichtung gebracht wird. Lesley trifft beim Wiedereinstiegsprogramm der Firma auf ihre ehemals befreundete Arbeitskollegin Irina, die sowohl im Job als auch als Mutter brilliert. Das zieht Selbstzweifel nach sich, wie sie jede “Working Mom" bestens kennen dürfte.

Da ist das Paar, das in einer anderen Story nach den beiden Geburten sein Sexleben mit einem “Homevideo” wieder aufpeppen will (obwohl sie ohnehin einmal die Woche Sex haben…), vergleichsweise uninteressant. Bei einigen Stories hat mir die Pointe gefehlt bzw. ich habe sie nicht verstanden. Während ich mich mit manchen Geschichten und den darin geschilderten Problemfeldern identifizieren konnte, wirkten andere fast schon surreal und grotesk auf mich. Vor allem mit der letzten, titelgebenden Geschichte “Dino Moms” konnte ich überhaupt nichts anfangen. Mütter und ihre Töchter auf einer Dino Farm in einer “Scripted-Reality-Fernsehshow” aber die Dinos sind echt - häh?

Es gab in manchen Stories Passagen, die fand ich richtig gut, aber meist sind die Geschichten an mir vorbeigezogen, ohne einen Aha-Moment in meinem Kopf zu hinterlassen. Natürlich kann bei neun Kurzgeschichten nicht jede gleich gut sein. Dafür sind sie dann in ihrer Zusammensetzung zu heterogen. Ich fand es schade, dass es keine zusammenhängenden Geschichten waren, also dass zum Beispiel am Ende alle Mütter, die in den einzelnen Geschichten vorkommen, aufeinandertreffen. 

Fazit: Alles in allem eine gute Short-Story-Collection, der ein roter Faden abseits des übergeordneten Themas gut zu Gesicht gestanden hätte. Warum das Buch als “Roman” bezeichnet wird, erschließt sich mir nicht. Aus dem Englischen übersetzt von Gesine Schröder.

Herzlichen Dank an Nagel und Kimche / Harper Collins Germany für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch: hier


Mittwoch, 6. November 2024

"Iowa" von Stefanie Sargnagel


[Disclaimer: Ich habe diese Rezension bereits am Abend des 5.11.2024 auf Instagram gepostet]

Ich hoffe “Iowa” ist die letzte Rezension, die ich schreibe, in einer Welt, in der noch nie eine Frau das mächtigste Land der Welt regiert hat bzw. erstmal bald für viele Jahre regiert. Und in einer Welt, in der ca. 47% der Amerikaner:innen in Erwägung ziehen, “Nr. 45” (seinen Namen möchte ich gar nicht mehr nennen) eine zweite Amtszeit im weißen Haus zu geben. Amerika ist eine “divided Nation”, wie viele Beobachter:innen es ausdrücken. 

In dieses geteilte Land, in dem Unmut und Aufbruchsstimmung zugleich herrschen, sind im Jahr 2022 die Wiener Autorin/Künstlerin Stefanie Sargnagel und die Berliner Singer-Songwriterin/Autorin Christiane Rösinger gereist, Erstere um an einem kleinen College (Grinnell) einen Workshop über das kreative Schreiben zu geben. Rösinger als Sargnagels Begleitung und um dort ein bisschen zu performen.

“Iowa” ist 2024 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet. Während sich eine andere Autorin der erfolgreichen Belletristik gefragt hat, warum sie dort nicht gelandet ist, wird sich Stefanie Sargnagel insgeheim, das behaupte ich jetzt mal weil ich es stark vermute, gefragt haben, warum ihr autofiktionaler Reisebericht dort auftaucht. Ich mache das auch, denn das Buch - Roman möchte ich es gar nicht nennen - hat in meinen Augen keinerlei literarische Relevanz. Als humorvoller Reisebericht kann es - da Humor Geschmackssache ist - gerade noch so durchgehen. Wie es sich aber gegen Bücher von hoher literarischer Qualität durchsetzen konnte, die nicht auf der Longlist gelandet sind, ist mir ein Rätsel.

Wenn es denn wirklich ein tiefer Einblick in die Seele Amerikas anhand des Beispiels von Iowa gewesen wäre. Es geht aber leider mehr um die beiden Reisenden als um Land und Leute, obwohl die zwischendurch natürlich auch schon mal vorkommen. Der Schlagabtausch zwischen Stefanie und Christiane - Millenial vs. Boomerin - ist zwar anfangs ganz nett, da sich die Themen (Altern/Ageism, Süchte, Essen, Berlin/Wien, die Vergangenheit und jeweilige ausgeprägte Persönlichkeit der beiden Freundinnen, Feminismus, Körpergewicht, Kinderwunsch/Mutterschaft, Künstlermilieu/Künstlerinnendasein, selten Amerika) aber ständig wiederholen, ziehen sich die endlosen Dialoge der beiden wie Kaugummi, den man nicht unter der Tischplatte rausbekommt, obwohl man kratzt und gleichzeitig zieht. So Sätze wie: “Der Speichelfluss ist angeregt” (S. 205), wenn beschrieben wird, wie sie eine Pizza aufteilen, lassen mich innerlich tatsächlich aufschreien. Sargnagel ist starke Raucherin und greift dauernd zum Glimmstängel, obwohl es auf dem Campus Gelände verboten ist: “Aus Trotz gegen die Schwingungen, die ich wahrnehme, rauche ich noch mehr, schmiere den Teer auf die Poren, rauche mir die Finger gelb [...] Am liebsten würde ich die Marlboro direkt in den Hummus stecken.” (S. 241) Hier wird suggeriert, dass es cool und subversiv wäre, zu rauchen. Auch eine Eigenschaft, die man vielleicht im Buch aus Jugendschutzgründen hätte unterschlagen können. Schließlich ist es keine 1:1-Wiedergabe des Iowa-Aufenthalts, sondern fiktional bearbeitet. Auch die Tatsache, dass Christiane Rösinger in Geschäften Sachen mitgehen lässt, macht sie für mich jetzt nicht grundsympathisch. Das Klauen wird hier ebenfalls als cool dargestellt. Ich bin wahrscheinlich kein Moralapostel, aber ob das wirklich sein muss weiß ich echt nicht.

Die “korrigierenden Fußnoten” von Rösinger sollen witzig rüberkommen, sind aber einfach nur ein weiteres Ärgernis, das den ohnehin schon zähen Lesefluss unterbricht. Und dann immer wieder der “Running Gag", dass Sargnagel behauptet, Rösinger würde sich einen “kleinen Hund” wünschen, obwohl sie in den Fußnoten ständig “kleine-Hunde-Bashing” betreibt, als wäre es 2003. Ja, wir haben es verstanden: kleine Hunde sind keine echten Hunde, sehen aus wie Ratten und sie würde sich höchstens auf einen “halbhohen” einigen können. Nicht.

Was ich noch anmerken möchte: Auch wenn die Autorin Triggerwarnungen erwähnt, bei ihrem eigenen Buch kann ich keine finden, obwohl sie kaum ein unangehmes Thema unangetastet lässt, oft in Form von Nacherzählungen von Pressemeldungen (“Zeitungsberichte werden um die Welt gehen über…” S. 268) und was ihr ein Typ im Darknet alles Traumatisierendes gezeigt hat. 

Sollte die Autorin das jetzt zufällig lesen und über mich denken “dumme Trutschn" oder so, dann sag ich jetzt schon mal sorry: Ich muss “leider” meine ehrliche Meinung sagen, weil sonst glauben mir die Leute nichts mehr. Aber hey, die Deutsche-Buchpreis-Jury fand das Buch supi, Sargnagel wird mit Thomas Bernhard verglichen (ich hör ihn sich schon umdrehen) und ihr Humor wird von “titel, thesen, temperamente” als “mit nichts zu vergleichen” bezeichnet… Ich muss wohl keine Ahnung haben. Also lass ich es jetzt lieber mal darauf beruhen.



Sonntag, 3. November 2024

"Übung" von Rosalind Brown


Großartiger Roman im Stil von Virginia Woolf

“Dann ist es geschafft, sie sitzt mit auf den Knien verschränkten Armen da und lässt den Kopf hängen. Hinter ihr schwimmt ein Haufen Scheibe in der Toilettenschüssel, und dem Geruch nach zu urteilen, befindet er sich nur teilweise unter Wasser. Sie dreht sich langsam um, wirft einen Blick auf die braunen Exkremente und macht sich an den mühsamen Prozess des Wischens.” (Rosalind Brown: “Übung”. Aus dem Englischen von Eva Bonné, Blessing Verlag, S. 200)

Das von mir ausgewählte Zitat drückt, so mein Empfinden, sehr gut den Grundtenor des Romans "Übung” aus. Dass hier beschrieben wird, wie der Darm der Protagonistin entleert wird, ist etwas Besonderes. Die schmutzigsten Sexszenen finden sich zwar in der aktuellen Literatur zu Hauf, aber die Beschreibung der nicht so schönen alltäglichen körperlichen Vorgänge muss man - vor allem in der Belletristik - mit der Lupe suchen. Das Spiel zwischen dem Höchsten und Edelsten, was der Mensch zu vollbringen mag - nämlich Kunst, hier am Beispiel von Shakespeares Sonetten - und dem Niedrigsten - körperlichen Ausscheidungen - wird hier so raffiniert ausgeführt, wie ich es selten anderswo gelesen habe.

Die Handlung des Romans spielt sich an nur einem Tag im späten Januar des Jahres 2009 im frostigen Oxford ab. Die Protagonistin, von der in der dritten Person gesprochen wird, “sie” also, heißt Annabel, ist 21 Jahre alt und studiert Englische Literaturwissenschaft auf Bachelor an der altehrwürdigen Alma Mater. Ihre Aufgabe ist es, bis zum morgigen Montag ein Essay über Shakespeares Sonette zu schreiben. Doch Annabel “prokrastiniert”: Während sie eine wissenschaftliche Abhandlung über die Sonette schreiben soll, macht sie alles andere. Die Sonette sind nur ein Denkanstoß, der sie über sich selbst, ihre Liebesbeziehung zu einem 15 Jahre älteren Arzt sowie vergangene Beziehungen und das Leben im Allgemeinen und Besonderen nachdenken lässt. “Übung” ist somit ein reflexiver Roman, die äußere Handlung besteht lediglich aus den Verrichtungen und den wenigen kurzen Begegnungen der Protagonistin an diesem einen Tag in ihrem Leben.  

Die Protagonistin reflektiert die prosaischen Umstände der Entstehung von Shakespeares Sonetten. Shakespeare, der unter Geldnot und vielleicht mit Hangover in einer schmutzigen Londoner Absteige Literatur am Fließband produzieren musste. Gleichzeitig sinniert sie über die elementarsten Dinge des Lebens nach. Zum Beispiel - es wurde eingangs bereits erwähnt - Körperfunktionen. Während sie auf der Toilette sitzt, denkt sie darüber nach, welchen genauen Weg ihr Urin nimmt. Oder dass sie immer zur gleichen Tageszeit, nämlich nach dem Abendessen im Gemeinschaftssaal, ihren Darm entleeren muss. Sie denkt auch über Sex nach. Sie führt eine lockere Fernbeziehung mit eben jenem 36-jährigen Arzt, die sich noch in der Anfangsphase des gegenseitigen Verzehrens nacheinander befindet. Liebessprache - ist die von Shakespeares lyrischem Ich gegenüber der “darky Lady” und dem “fair boy” so anders als die von Annabel gegenüber ihrem Arzt-Lover am Telefon oder per SMS? Auch Autoerotik bzw. Selbstbefriedigung ist ein Thema, das in einer ausführlichen Masturbationsszene ausgeführt wird.

Es geht aber nicht nur um den Körper, sondern eben auch um den Geist, den Kopf, das Denken. Das “Wie” von Autorschaft - Wie kommen Texte zustande, diese Frage stellt sich: der Text. Autofiktion, Selbstreferentialität, Metafiktion? Alles das. Sowohl der Primärtext als auch der Sekundärtext, den die Protagonistin zu schreiben versucht, haben einen Entstehungsprozess. Und dieser wird immer wieder von der Studentin reflektiert und Rückschlüsse auf das eigene Schreiben gezogen. Schließlich wird die Protagonistin selbst zur Autorin. Es entspinnt sich in ihrem Kopf eine homosexuelle Liebesgeschichte zwischen einem “GELEHRTEN” und einem “VERFÜHRER”, die beide eigentlich “sie sind” (S. 174). Das ist der vielleicht philosophischste Teil des Romans.

Der Roman ist auch eine Verbeugung vor dem Genie Shakespeares, das so übermächtig und groß ist, dass eine schriftliche Annäherung und Deutung ja Zerpflückung seiner Werke vermessen erscheint. Auch Virginia Woolf - so wird es im Nachwort zitiert - war einmal der Meinung dass angesichts von Shakespeares Genie alles weitere Schreiben redundant wäre.
Annabel hat im Sommer, bevor die Handlung beginnt, Virginia Woolf für sich entdeckt und ist von ihrem Schreiben und ihrer Biographie absolut fasziniert. Der Roman “Übung” ist dementsprechend nach dem Vorbild von Virginia Woolfs experimentellen modernistischen Romanen konzipiert. Man denke nur an “Mrs. Dalloway”, ein Roman, der auch an nur einem Tag spielt und mit wenig äußerer Handlung vor allen die Gedanken der Protagonistin beleuchtet.

In “Übung” geht es auch an manchen Stellen um die kleinen Tragödien des Lebens, die einem angesichts der großen Tragödien nichts anhaben sollten. Und dennoch: Welch großer Schmerz steckt in dem abgebrochenen Henkel des Lieblingsbechers, den man fortan nicht mehr richtig wird benutzen können. Kleine Abschiede, die wir mit uns selbst ausmachen, weil sie zu unwichtig und lächerlich wären für die anderen. Zudem: Die kleinen, feinen Nuancen, die unsere Stimmungen in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen - unser seismografisches Selbst.

Es zeugt von großer schriftstellerischer Könnerschaft, das Kleinste und das Allerkleinste, das Alltägliche und das Banale literarisch so auszuarbeiten, dass es unser Interesse weckt, dass wir nicht einknicken vor dem Prosaischen, sondern es wie eine spannende Handlung verfolgen. Dass man sich beim Lesen tatsächlich oft ertappt und zuweilen sogar wie ein/e Voyeuer/in fühlt, das ist wirklich bravourös gemacht. Ich ziehe den Hut vor Rosalind Brown und der meisterhaften Übersetzung von Eva Bonné - 5 Sterne!

Herzlichen Dank an Team Bloggerportal und Blessing Verlag für das Rezensionsexemplar!

Mittwoch, 30. Oktober 2024

"Tage einer Hexe" von Genoveva Dimova

Schmutzige Tage und schaurige Nächte

“Sie ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf die verschneite Straße frei. Auf dem Dach gegenüber glitzerte etwas. Der Schatten einer großen Frau duckte sich hinter den nächstbesten Schornstein. Nur der Rauch ihrer Pfeife kräuselte sich noch erkennbar im Wind.” (Genoveva Dimova: Tage einer Hexe. Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel, Klett-Cotta, S. 386)

Die Handlung spielt in einer fiktiven Version eines slawischen Landes (die Autorin wurde in Bulgarien geboren) während der zwölf “Schmutzigen Tage”, beginnend in der Silvesternacht, die den Start dieser Tage im Roman markiert. Bei uns gibt es ja die Raunächte, die von Weihnachten bzw. in der heidnischen Tradition von der Wintersonnenwende bis ca. zum 6. Januar andauern. Beide Zeiten haben gemeinsam, dass man ihnen nachsagt, der “Schleier zwischen den Welten” würde dünner werden und Magie in der Luft liegen. In Chernograd, einem ummauerten Ort, der aus Schwarzweiß-Tönen, Rauch, Traurigkeit und Magie zu bestehen scheint, treiben während der "Schmutzigen Tage” waschechte Monster und Geister ihr Unwesen: Upire, Karakonjule, Ruba, Rusalken, Samodiven, Varkolaks… Um die Stadt vor diesen Monstern zu beschützen, braucht es Magie und die wird dort von Hexen ausgeübt. Bzw. die Hexen versorgen die “normalen” Chernograder*innen mit Amuletten, Talismanen, Zaubertränken und anderen magischen Artefakten zur Verteidigung gegen die bösen Kreaturen.

Unsere Protagonistin Kosara Popova aus Chernograd ist eine Feuerhexe. Aber dummerweise verzockt sie ihren Schatten in der Neujahrsnacht an einen Fremden, weil er sie vor dem Zmey, dem Zar der Monster, beschützen soll. Welche Vorgeschichte Kosara mit dem Zmey hat, erfahren wir erst nach und nach. Der Fremde teleportiert Kosara nach Belograd, die Stadt auf der anderen Seite der Mauer, in der alles anders und vor allem positiver ist als in Chernograd. Wie es Roxana, eine andere Hexe aus Chernograd formuliert: “Alles ist so neu und aufgeräumt und sauber. Und die Leute sind so nett. Das ist irgendwie unheimlich. Warum lächeln sie die ganze Zeit? Was ist so verdammt lustig? Was haben sie zu verbergen?” (S. 68) Der erste Teil des Buches besteht aus dem Spiel mit der dichotomen Topographie der beiden Städte: Chernograd vs. Belograd. Aber obwohl Belograd so viel angenehmer und bunter ist als Chernograd, weiß Kosara, wo sie hingehört und vor allem, dass sie als Hexe ohne Schatten nicht überleben kann…

Der Plot dieses Fantasy-Romans, der den ersten von bislang zwei Teilen markiert, ist actionreich und spannend. Wir fiebern mit Kosara mit, wie sie versucht, den Zmey zu besiegen und ihre Magie zurückzuerobern. Dabei treffen wir nicht nur die blutrünstigen Monster und Geister, sondern auch allerlei schräge menschliche Gestalten an. Wir hängen auch das ein oder andere Mal auf dem Friedhof ab, denn viele der Monster sind nichts anderes als Zombies. Bei allem Gruselfaktor, der hier zum Tragen kommt: Ein bisschen “Romantasy” ist auch dabei, denn in Belograd lernt Kosara den schmucken Bullen Able kennen, wobei es der ansonsten einsamen (mal vom Geist ihrer Schwester abgesehen) Feuerhexe etwas wärmer ums Herz wird. Das alles ist gewürzt mit einer ordentlichen Portion Humor und Augenzwinkern. 

Besonders hervorheben möchte ich die wirklich beeindruckend “herbeigeschriebene” winterliche Atmosphäre, die dieser Roman von der ersten Zeile an ausstrahlt. Man möchte sich als Leser*in sofort mit einer Decke und einem Punsch/Tee einkuscheln und noch tiefer in die fantastisch-magische Welt eintauchen, die Genoveva Dimova sich ausgedacht hat.

Wer actionreiche Fantasy-Geschichten mag, die etwas gruselig sind und dabei oft ins Skurrile und Groteske gehen, eine tolle winterliche Atmosphäre aufweisen und eine starke, etwas “andere” (weibliche) Protagonistin haben, die auch dem ein oder anderen Love Interest nicht abgeneigt ist, der ist mit “Tage einer Hexe” an genau der richtigen Adresse. Zum absoluten Mega-Highlight hat es bei zwar nicht gereicht, aber es ist ein sehr unterhaltsamer Fantasy-Roman, der mit Sicherheit viele begeisterte Leser*innen finden wird.

Herzlichen Dank an Hobbitpresse/Klett-Cotta und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch gibt es: hier


Sonntag, 27. Oktober 2024

"Das Comeback" von Ella Berman


Wichtiges Thema langatmig umgesetzt 

Namen möchte ich jetzt keine nennen - das würde zu weit führen - aber in den letzten Jahren ist einiges ans Licht gekommen, was den Machtmissbrauch in den darstellenden Künsten, aber auch in anderen Branchen, betrifft. Meist junge Frauen, Männer und sogar Minderjährige, die - in den allermeisten Fällen - von männlichen Vorgesetzten unterdrückt, ausgebeutet, sexualisiert und teilweise sogar missbraucht wurden - wir alle haben dazu konkrete Beispiele im Kopf und den Hashtag #Metoo, der traurige Berühmtheit erlangte. Dabei liegt es sehr nahe, solche Geschichten zu fiktionalisieren, um ihnen eine Allgemeingültigkeit zu verleihen und den Betroffenen zu einer Identifikationsmöglichkeit zu verhelfen, die vielleicht dazu anregt, die eigene Geschichte ebenfalls zu erzählen.

Die Autorin Ella Berman hat sich in ihrem Erstlingswerk “The Comeback” (2020) dieses kontroversen und doch so wichtigen gesellschaftlichen Themas angenommen. Sie hat das Buch bereits 2017 geschrieben, in den Folgejahren kamen immer mehr Missbrauchsgeschichten aus dem Showbusiness ans Licht, die Autorin hat sich aber dazu entschieden, ihre Geschichte nicht zu verändern. 2024 wurde das Buch für den neu gegründeten Verlag Pola Stories, ein Unterverlag von Bastei Lübbe, von Elina Baumbach in Deutsche übersetzt.

Es geht um die 22-jährige Grace Turner (eigentlich Grace Hyde), die in ihrer Heimat England als 13-jährige für einen Hollywoodfilm gecastet wurde und im Zuge dessen mit ihrer Familie (Vater, Mutter und 8 Jahre jüngerer Schwester) nach Los Angeles zog. Sie erlebt eine Karriere als Kinderstar, verdient Millionen, wird drogensüchtig und alkoholkrank. Mit Anfang 20 verschwindet sie nach einem Zerwürfnis mit ihrem Entdecker Able von der Bildfläche. Was keiner weiß: Able hat sie jahrelang missbraucht und erniedrigt. Die eigentliche Geschichte handelt nun davon, wie sich Grace mit 22 Jahren zurück ins Leben kämpft und einen Comebackversuch startet.

Die Gegenwartshandlung schreitet nur sehr langsam voran, was aber zur festgefahrenen Situation der Protagonistin passt, die im Moment nicht wirklich weiß, wie es mit ihr als Mensch und Schauspielerin weitergehen soll. Häppchenweise bekommen wir die Vergangenheit durch episodenhafte Rückblenden präsentiert. 

Wenn ich Schulnoten für dieses Buch vergeben müsste, könnte ich mich mit mir selbst sehr schnell auf eine Drei minus einigen. Berman hat ein super wichtiges Thema relativ leidenschaftslos und ohne erkennbare größere intellektuelle Anstrengung präsentiert - solide, in Ordnung, aber mehr auch leider nicht. Ja, wir bekommen Einblicke hinter die Kulissen des Filmbusinesses, aber diese sind sehr oberflächlich. Es geht oft um Drogen- und Alkoholkonsum, auch Body Shaming ist ein Thema. Die Protagonistin war mir weder sympathisch noch unsympathisch, sie war einfach nur da wie eine Statistin in einem Kostümfilm. Obwohl wir das Geschehen komplett aus ihrer Sicht verfolgen, ist sie mir einfach keinen Millimeter nahe gekommen. Die Beziehung zur Ehefrau von Able, Emilia, nimmt sehr viel Raum ein, ohne dass ersichtlich wäre, warum. Einzig Dylan als Nebenfigur war mir einigermaßen sympathisch, wobei er schon ein wenig zu “perfekt” war, um wahr zu sein.

Die Leseerfahrung ist immer mein ehrlichstes Jurymitglied, wenn es um die Bewertung eines Romans geht. Und wenn ich immer wieder in Gedanken abschweife, um mein nächstes Buchfoto zu planen oder mir zu überlegen, was ich gleich esse, dann ist das wahrlich kein gutes Zeichen. Das Problem sind vor allem die langweiligen Dialoge zwischen Grace und wechselnden anderen Charakteren, die neben den Rückblenden fast die ganze Handlung ausmachen. Das eigentlich Spannende, nämlich die Konfrontation bzw. das Wiedersehen mit ihrem Peiniger, wird unendlich hinausgezögert. Als es dann gegen Ende des Romans endlich zu einem Aufeinandertreffen kommt, ist dies auch sehr schnell wieder vorbei und zugleich der Auftakt eines sehr theatralischen und unglaubwürdigen Höhepunkts des Romans. 

Sprachlich ist dieses Buch auch nicht das Gelbe vom Ei. Es ist zu einfach gestrickt, um auch nur annähernd literarisch bedeutsam zu sein. Ich habe kein Zitat verwendet für den Einstieg in diese Rezension. Das heißt schlicht und einfach, ich fand keine Aussage, die in diesem Roman gemacht wurde, die ich so bedeutsam oder sprachlich schön fand, dass ich sie mir hätte merken wollen. Die Autorin arbeitet gelegentlich mit dramatisch-pathetischen Sprachbildern, die inmitten der sonstigen Alltagsprosa maximal fehl am Platz wirken. Auch geht vieles ins Melodramatische, so dass der Roman nur knapp an dem vorbeischrammt, was man “Trivialliteratur” nennen würde. In einer Szene denkt Grace über ihre Hochzeit nach: “Während der Trauung hielt ich meinen Brautstrauß so fest umklammert, dass ich mir in den Finger stach und meinen weißen Jumpsuit vollblute.” (S. 57) Come on, der High-End-Blumenstrauß einer Hollywood-Millionärin dürfte erstens keine Dornen enthalten und zweites wird immer ein Band um solche Straße gebunden, damit genau sowas nicht passiert. Solche Bilder zu benutzen ist meines Erachtens billige Effekthascherei, die man eben nur in einfach gestrickten Romanen findet. Die Übersetzung aus dem Englischen erscheint mir stellenweise auch etwas zu nah am Originaltext, was mitunter merkwürdige deutsche Satzkonstruktionen nach sich zieht. Wobei natürlich auch sein kann, dass der englische Text nicht mehr hergibt.

Fazit: Bei Interesse für die Opfer des Machtmissbrauchs in Hollywood macht es sicher mehr Sinn, ausgewählte Artikel der “New York Times” zu diesem Thema zu lesen. Daraus wird man einen größeren Mehrwert ziehen, als aus der Lektüre dieses langatmigen Romans. Allerdings habe ich schon begeisterte Rezensionen gesehen und daher kann das natürlich auch nur meine bescheidene Minderheitenmeinung sein.

Herzlichen Dank an Pola Stories für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch findet ihr: hier

Freitag, 25. Oktober 2024

"Wohnverwandtschaften" von Isabel Bogdan


Ihr neuer “pflegeleichter” Mitbewohner

Viele Menschen werden sich erinnern: Die Realverfilmung von “101 Dalmatiner” spülte nicht nur Millionen in die Kassen des Disney-Konzerns, auch Dalmatiner-Züchter*innen konnten gut davon leben. So ähnlich stelle ich mir den WG-Hype vor, nachdem "Wohnverwandtschaften” von Isabel Bogdan auf der Bestseller-Liste gelandet ist. Und ich meine nicht nur die jungen Menschen, die die traditionellen Anhänger*innen von Wohngemeinschaften sind. Auch die älteren Semester werden der Idee einer Koexistenz mit anderen, ihnen zunächst fremden Menschen plötzlich nicht mehr so abgeneigt sein. Aber nicht nur die Bestsellerlisten sind ein Indikator dafür, dass wir enger zusammenrücken müssen. Der aktuelle Wohnungsmarkt ist härter denn je, zu viel Wohnfläche für wenige Personen ein Klimakiller, der demografische Wandel, all das spricht für das Wohnmodell, das die “Golden Girls” schon im Amerika der 1980er Jahre gelebt haben.

Isabel Bogdan hat aber nicht vier ältere Damen als Figuren für ihren Roman ausgewählt, sondern zwei Frauen und zwei Männer. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Bogdan ihren Titel “Wohnverwandtschaften” an Goethes “Die Wahlverwandtschaften” angelehnt hat, wo dieselbe Geschlechterkonstellation vorkommt. Anders als bei Goethe sind Constanze und Murat, Anke und Jörg aber keine zwei Pärchen, sondern eine WG. Diese ist entstanden, weil Jörgs Frau Brigitte starb und die große Vierzimmerwohnung in Hamburg Altona wieder richtig bewohnt werden wollte und der Witwer Geld brauchte. Also sind zu dem pensionierten Journalisten Jörg (zu Beginn der Handlung 2022 ist er 78) noch die arbeitslose Schauspielerin Anke (53) und der selbständige It-Berater (Alter unbekannt) Murat sowie zuletzt die Zahnärztin Constanze (Alter unbekannt, aber ca. um die Vierzig) gezogen.

Ich möchte etwas zur Leseerfahrung von  “Wohnverwandtschaften” sagen. Das Buch zu lesen, ist, wie mehrere neue Folgen der Lieblingssendung am Stück zu schauen und sich danach mit einem mit Gemütlichkeit assoziierten Getränk zufrieden in die Sofakissen fallen zu lassen. Ein Wohlfühlbuch, ganz ohne Frage und genau dafür gedacht, den Lesenden schöne Stunden zu bereiten. Wie so ein Herbst/Winter-Gericht, wie heißt das noch, ach ja: Soulfood. Es geht auch ganz oft um das gemeinsame Essen in diesem Roman, denn Murat kocht sehr gut und baut sein eigenes Gemüse in seinem Schrebergarten (Laube heißt das glaube ich im Hamburger Raum) an. Das Rezept auf Seite 117 klang so köstlich, dass ich es sofort ausprobieren musste, denn: “...mit Birnen im Essen macht man nie was falsch.” Also ihr merkt schon: Alles sehr cosy, wobei die Handlung an sich eher traurig ist: Constanze und Murat hadern mit ihrer Vergangenheit; Jörg mit allen Zeitformen, denn diese verschwimmen immer mehr durch seine zunehmende Demenz. Anke hadert vor allem mit der Zukunft, in der sie als alternde Schauspielerin keine Jobs mehr zu bekommen scheint. Aber: sie haben alle einander und darum geht es - Einsamkeit gegen Gemeinsamkeit einzutauschen.

Inhaltlich hätte ich mir gewünscht - und auch ein bisschen erwartet - dass es ein bisschen mehr um das Zusammenwohnen an sich geht. Also um das eigentliche Leben in einer WG, wer wen wann stört und wann mit dem Putzen dran ist, wer zu lange auf dem Klo hockt, was man zusammen macht, wie gelebt wird. Aber das wird nur am Anfang und dann am Rande ein bisschen erwähnt. Stattdessen sind wir vor allem in den vier Köpfen der Bewohner*innen, die jeweils ihre eigenen Päckchen zu tragen haben. Eigentlich dachte ich mir, dass der ganze Roman im Stil des letzten Kapitels geschrieben wäre. Aber so, wie es umgesetzt wurde, ist es auch gut.

Erwähnenswert ist - neben dem wunderbaren Humor von Isabel Bogdan, der in all ihren Büchern die Tragik des Geschehens durchbricht - die hervorragende Darstellung der fortschreitenden Demenz bei Jörg. Mit Worten darzustellen, wie einem die Worte fehlen, wie der sprachliche Horizont immer kleiner wird, das ist schon bemerkenswert umgesetzt worden. Überhaupt ist die schon fast alltägliche Story von sehr durchschnittlichen Menschen (selbst die Schauspielerin kommt alles andere als abgehoben oder extravagant rüber) sehr warmherzig und die Lesenden sollen sich mit diesen Menschen, die sind “wie du und ich”, identifizieren können.

Ein wirklich gemütlicher und Hoffnung machender Roman. Solltet ihr ihm ein Zuhause geben wollen, macht ihr bestimmt nichts falsch. Und pflegeleichter als ein Dalmatiner ist das Buch allemal.

Herzlichen Dank an den Kiwi-Verlag für das Rezensionsexemplar!

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