Montag, 7. Juli 2025

"Content" von Elias Hirschl

Dieser Roman ist total gestört - im besten und positivsten Sinne. Er ist gaga, delulu, irre - was ihr wollt! Sowas muss einfach einem genialen Gehirn entsprungen sein, das kannst du dir nicht ausdenken. Ich habe auch manchmal gar nicht gecheckt, was hier eigentlich abgeht, vor allem als es um die Doppelgängerin ging, bin ich doch ziemlich im Dunkeln getappt - man muss quasi doppelt aufmerksam “hinschauen”. Und weil ich außerdem absolut keine Ahnung habe, wie ich hierzu eine “normale” Rezi schreiben soll, gibt es jetzt - Trommelwirbel / Premiere / Neu, neu, neu und wahrscheinlich einmalig - ein Rezi-Listicle. Denn in diesem Roman “Content” geht es vor allem um Listicles, also solche Online-Artikel, in denen Infos anhand von Listen übermittelt werden. Und um ihre Schreibenden auf einer von den Russen gesteuerten “Content-Farm” in einem gruseligen ehemaligen Industrieort mit dem Nickname “Staublunge”, die dort vor sich hin vegetieren und dabei langsam aber sicher in den Wahnsinn abdriften. Klingt mega, oder?

Also: 10 Gründe, warum du “Content” von Elias Hirschl aus dem Zsolnay-Verlag besser gestern als morgen gelesen haben solltest 

  1. weil es einfach anders krass reinhaut und wir alle hier und da einen frischen literarischen Wind im Einheitsbrei brauchen

  2. weil Karin einfach Badass ist, recht hat und es keine “letztgültige Wahrheit” gibt

  3. wegen der Perfidität von Plastikkateen, die dir vorgaukeln unsterblich und immer an deiner Seite zu sein 

  4. weil jeder, der mit Rote-Bete-Produkten Geld verdienen möchte, einen an der Waffel hat

  5. weil es die Meinung enthält, dass Musils “Mann ohne Eigenschaften” ein “beschissenes, anstrengenes Buch” ist. Ihr könnt mich ja vom Gegenteil überzeugen. Sorry RM, aber wer hat schon geschafft, es wirklich zu lesen und zu verstehen. Selbst “Ulysses” war um Weiten zugänglicher.

  6. weil “Content” den Finger auf die Wunde und damit auf das Dilemma unserer überdifferenzierten, überinformativen Welt der unendlichen Optionen legt. Wir wissen einfach zu viel und doch wieder fast nichts wirklich. Wer bin ich und wenn ja bin ich ein Bot?

  1. weil Elias Hirschl allein für die mit Semikolon aneinandergereihten Listicle-Ideen auf den Seiten 162-169 den Literatur-Nobelpreis hinterhergeschmissen bekommen müsste. Ich habe selten so gelacht und kann euch nur einen meiner vielen Favoriten zitieren: “die 14 dümmsten Wege, die Druckkosten eines Romans zu erhöhen;” (S. 164)

  2. weil ich Seite 162-169 immer wieder und wieder lesen werde, bis ich es auswendig mitzitieren kann

  3. weil queere Charaktere vorkommen, obwohl man es nicht erwartet

  4. (Spoiler) weil das Ende so schön traurig ist bzw. die Liste, in der man lernt, wie man ein glücklicheres Leben führt - wer würde das nicht wollen?

Danke an den Zsonlay-Verlag für den Gewinn!




Donnerstag, 3. Juli 2025

"Schwindel" von Hengameh Yaghoobifarah


In dem Roman “Schwindel” von Hengameh Yaghoobifarah geht es um eine Situation, die für alle Beteiligten unangenehmer nicht sein könnte: Vier Liebhaber_innen aus einem Vierecksverhältnis, die gemeinsam auf einem Hochhausdach “ausgesperrt” sind. Aua. Vor allem doof ist es für die, die mit allen drei anderen was am Laufen hat: Ava. Sie hatte was mit Delia (dey/demm), gehostet ihre Affäre Silvia (die sehr viel älter als alle anderen ist, die Anfang 30 sind) und ist verknallt in Robin, die eigentlich in einer heteronormativen Langzeitbeziehung mit ihrem Partner Ivo ist. Und nun erweist sich die Hölle mal wieder als “die anderen”, wie es bei Sartre so schön heißt. Mensch muss sich mit den Entitäten außerhalb des eigenen Selbst auseinandersetzen, egal wie schmerzhaft, schön und schrecklich es auch sein möge. 

Nicht nur vom Thema her, sondern auch erzählerisch ist das sehr clever gemacht: Die Teilnehmenden der temoporären Zwangsgemeinschaft lernen wir nach und nach als Individuen kennen - ihre Träume, ihre Traumata, ihr Begehren und ihre Wünsche für die Zukunft. Ein bunter Fächer an queeren Lebensentwürfen, die eines eint: sie sind Menschen und sie wollen glücklich sein.

Ich musste an vielen Stellen richtig schmunzeln, weil in diesem Roman so herrlich unverkrampft mit Klischees gespielt wird, ohne dass es jemals böse gemeint ist. Da sinniert eine Figur zum Beispiel über “Wanderlesben”, mit denen sie eben nicht in einer Beziehung sein möchte. Oder an anderer Stelle wirft eine Person der anderen an den Kopf: “Was bist du für eine Lesbe, wenn du keinen Karabinerhaken mit deinen Schlüsseln an deiner Jeans trägst?” (S. 49) Lol. Yaghoobifarah holt den Humor in die queere Schreibe zurück und ist gleichzeitig an vielen Stellen hoch literarisch, spielt mit Sprache und weiß einfach damit umzugehen. Auch wenn der Roman in der dritten Person erzählt wird, wird für jede Figur ein anderer “Sprech” verwendet. Um Delias Perspektive zu vermitteln, wurde beispielsweise Kleinschreibung benutzt, was ich sehr spannend finde. Wie anders kommt Sprache an, wenn sie gleich gemacht wird, wenn sie ohne Höhen und Tiefen fließt. Und bei Silvia kommt einem die Erzählweise fast konservativ, “bürgerlich” vor, obwohl sie alles andere ist als das, aber sie ist halt “die Alte”. Ava weißt nicht recht, was sie will, wer sie ist und auch das spiegelt sich in ihren sprunghaften Passagen wider.

Neben dem humorvollen Touch, dem ganz eigenen Slang und dem Spiel mit Wörtern und Sprache ist dem ganzen Roman noch ein philosophischer Überbau beigefügt, der das Ganze zu einem perfekten Kunstwerk macht. Auch die esoterischen Einsprengsel hier und da fand ich spannend. Yaghoobifarah versteht einfach von allem was.

Das Buch wurde mir übrigens von einer Buchhändlerin empfohlen, als ich “Auf allen Vieren” von Miranda July gekauft habe. Also ihr wisst schon: Kund_innen, die kauften, kauften auch… Kann ich so unterschreiben. Nur dass “Schwindel” meiner Meinung nach besser ist als der Roman von July. Aber maybe that’s just me, auf jeden Fall: lesen, wenn ihr mögt!


Freitag, 27. Juni 2025

"Strandgut" von Benjamin Myers


Der alte Mann und das britische Meer

Wenn ich Benjamin Myers lese oder an sein Werk denke, dann schiebt sich ein Wort vor allen anderen in mein Bewusstsein: zeitlos. Sein hierzulande wohl berühmtester, meist gelesener und besprochener Roman “Offene See” spielt in der Vergangenheit, sein aktuelles Buch “Strandgut” in der Gegenwart. Aber irgendwie ist das nebensächlich, denn der individuelle Erzählton des britischen Autors ist immer derselbe: poetisch, klassisch, auf den Punkt. Myers Erzählen wird die Zeiten überdauern, seinen Status als “moderner Klassiker” mit jedem neuen Werk untermauern. Neben dem besonderen Erzählton vor allem auch deshalb, weil er zeitlose Menschheitsthemen zum Gegenstand seiner Bücher macht, mit denen sich praktisch jeder und jede identifizieren kann: Liebe, Verlust/Tod/Trauer, Schicksal, Neuanfang bzw. “das Danach”.

Der Phönix, der aus den verbrannten Trümmern seines Lebens aufsteigt, ist in “Strandgut” (Originaltitel: “Rare Singles”) der Amerikaner Earlon “Bucky” Bronco. Der Name könnte klischeehafter nicht sein. Am Anfang erleben wir den ehemaligen Soulsänger und mittlerweile Ü-70-Jährigen in seiner Heimat Chicago, wo er uns als gebrochener Mann und gebeutelte Seele entgegen humpelt: Er holt sich in der Apotheke/Drogerie seine Opiate, denn ohne sie kann er nicht mehr leben - genauso wenig wie ohne seine Frau Maybellene, die allerdings vor fast einem Jahr an Krebs verstarb. Ein Süchtiger, einer, der seine Trauer betäubt. Hier wäre die Geschichte eigentlich nur noch aus der Retrospektive relevant, wenn da nicht die Zukunft wäre, die Bucky ruft: Er soll seine wenigen alten Hits, die er als Teenager eingesungen hat und mit denen er nichts verdient hat, bei einem Festival im englischen Küstenort Scarborough singen und bekommt alles bezahlt. Hauptsächlich geht es jetzt also darum, wie er eine Woche in England verbringt und dort u.a. auf komische Mahlzeiten, englische Gebräuche und die Ü-50-Jährige Dinah trifft, die ein Fan von ihm zu sein scheint. Kann das “Hier und Jetzt” Bucky nochmal für sich begeistern?

Benjamin Myers schafft es irgendwie immer mich mitzunehmen - egal welche Geschichte er erzählt. Seine Worte, seine lyrische Prosa machen selbst - setze ein unflätiges Wort, das Exkremente beschreibt - zu Gold. Wobei ich die Geschichte, den Plot, die etwas karge, manchmal spröde und oft herzerwärmend ruhige Handlung auf keinen Fall runtermachen möchte. Solche Geschichten haben ihren Platz, ihre Nische. Solche Geschichten berühren, auch wenn sie vielleicht nicht für jeden sind. “Strandgut” ist vielleicht nicht Benjamin Myers gefälligstes, schönstes Buch, aber es macht sein Gesamtwerk um eine wichtige Facette reicher. Der Roman atmet Musik und Leben, zeigt uns, dass - so negativ der Status auch sein möge - immer die Chance auf eine bessere Zukunft in unseren eigenen Händen liegt. Wir sind unseres Glückes Schmied - wir müssen nur die Augen aufmachen und das Eisen aufheben, das wir zu dem vielleicht schönsten Hufeisen schmieden werden, das wir jemals in der Hand gehalten haben. Empfehlenswert. Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence.

Herzlichen Dank an Dumont und Vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!


Sonntag, 22. Juni 2025

"Mittsommer" von Lucy Foley


Happy Mittsommer! Kennt ihr das Phänomen aus schlechten Serien, wenn Charaktere sterben und dann in der nächsten Staffel wieder auftauchen, weil sie doch keinen besseren Job gefunden haben? Gut, in Büchern ist das jetzt nicht das Problem, aber wenn ihr darauf steht, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, seid ihr mit “Mittsommer” (Original: “The Midnight Feast”) von Lucy Foley gut bedient.

In diesem Thriller geht es um ein schickes Retreat/Öko-Hotel an der englischen Küste von Dorset, das die Londoner Unternehmerin Francesca Meadows aus dem Landsitz ihrer reichen Familie gemacht hat. Am Mittsommertag 2025 (also genau heute) möchte sie es eröffnen. Ihr attraktiver Ehemann Owen, der Architekt ist und das Retreat mitgestaltet hat, steht ihr dabei zur Seite und auch ihre Kristalle und Edelsteine, die sie vor Neidern und bösen Energien schützen sollen. Doch Francesca trägt selbst eine dunkle Vergangenheit mit sich rum. Was haben Michelle, ihre persönliche Assistentin, der 19-jährige Eddy vom heruntergekommenen Bauernhof aus der Nachbarschaft, der als Tellerwäscher angestellt wurde sowie die mysteriöse Bella damit zu tun, die eine der Hütten in der Nähe des Waldes bewohnt? Na alles natürlich, wie sollte es auch anders sein.

Was ich schlecht fand: Die Geschichte ist schon sehr übertrieben in ihrer Verbissenheit, für alles einen Plottwist zu konstruieren. I mean: come on…Aber so genau kann ich nicht darauf eingehen, wenn ihr es noch lesen wollt. Die Charaktere sind teilweise sehr klischeehaft gezeichnet (Francesca, ihre Brüder, Michelle) und handeln nicht wie echte Menschen, sondern so, als würden sie von einer KI gesteuert. Alles hat so einen Anstrich von unrealistischer Serie, Konstrukt, “Desperate Housewives”. Zudem hat das Buch seine Längen und mir hat öfter die Spannung gefehlt. Zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich das Interesse fast verloren, aber dann doch noch die Kurve gekriegt. Dass der Vollmond im Juni 2025 - also genau jetzt - nicht zu der Zeit stattfindet, in der er stattfinden sollte, finde ich nicht so prickelnd. Man kann auch mal einen kurzen Blick ins Internet bzw. den Mondkalender werfen oder fällt das unter künstlerische Freiheit? Wir werden es nie erfahren.

Was mir gefallen hat: Dass der Thriller mit ländlichem Aberglauben und der Verwurzelung der Bevölkerung mit den heidnischen Traditionen spielt. Das passt zu Mittsommer, das ja auch ein heidnisches Fest ist und mal ausnahmsweise nicht von Kirche für ihre Zwecke adaptiert wurde. Den ganzen Themenkomplex Esoterik/Heidentum fand ich sehr gut umgesetzt und in die Handlung verwoben. Die Atmosphäre wurde absolut greifbar, das perfekte Setting zwischen Wald und Küste hat dazu beigetragen. Man hat es gefühlt, wie es ist, dort zu sein. Reiche Leute, die so tun wollen, als seien sie natur- und erdverbunden. Hat mich überzeugt bzw. nicht lol. Auch der Einbau von Gegenwarts- und Vergangenheitshandlung war stimmig. Raffiniert ist ebenfalls, dass man bis fast zum Ende nicht erfährt, wer das Mordopfer ist, ja noch nicht mal sein Geschlecht.

Alles in allem eine Mischung aus: Ja, kann man lesen, ist ganz unterhaltsam, aber ist auch stellenweise echt verwirrend und wirkt sehr stark konstruiert. Man kann direkt zwischen den Zeilen spüren, wie sich die Autorin das Ganze ausgedacht hat. Und ob das bei einem fiktionalen Werk so sein soll, dass man den Spreadsheet des Schreibenden vor sich sieht, während man liest, das sei jetzt mal dahingestellt. 

Aus dem Englischen übersetzt von Ivana Marinović für den Penguin Verlag.


Montag, 16. Juni 2025

"Permafrost" von Eva Baltasar


“Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie?” hat sich Thomas Bernhard gefragt. Im besten Falle beides. In Lektüren und neuerdings auch in meinem eigenen Schreiben suche ich immer das Tragikomische. Es ist einfach das, was mich am meisten anspricht, was Literatur für mich menschlich und “echt” macht. 

Nicht nur ist Thomas Bernhard auch mit aus diesem Grund einer meiner Lieblingsautoren. Er verbindet das abgrundtief Traurige mit dem Humorvollen, den Schmerz mit dem Kalauer und dem beißenden Sarkasmus. Und wenn dann eine zeitgenössische Schreibende ihr Buch mit einem Zitat von ihm beginnt, dann ist das für mich allein schon ein Qualitätsnachweis und Vertrauensvorschuss, bevor ich das Buch überhaupt begonnen habe. Die katalanische Lyrikerin Eva Baltasar hat es getan. Ihren schmalen Roman “Permafrost”, der gleichzeitig ihr erstes Prosawerk ist, mit einem Thomas-Bernhard-Zitat eingeleitet: “To be born is to be unhappy, he said, and as long as wie live we reproduce this unhappiness.” Der Satz stammt aus dem Roman “Der Untergeher”, der in der Übersetzung witziger und nicht ganz akkurater Weise “The Loser” heißt. Da ich des Katalanischen nicht mächtig bin, habe ich Baltasars Buch in der englischen Übersetzung von Julia Sanches gelesen.

Um was geht es? Eine lesbische Ich-Erzählerin, gebürtig aus Barcelona, die edgy ist und wo es geht versucht, gegen gesellschaftliche Normen aufzubegehren, berichtet uns plain and simple aus ihrem Leben. Gescheiterte Lieben, das Lesbischsein, gescheiterte Berufe, Liebäugeln mit dem Selbstmord, die monatliche Qual der Endometriose, der gesellschaftliche und berufliche Erfolg der Schwester, die sie ja doch liebt. Es geht nicht so sehr um das “Was”, sondern vielmehr um das “Wie”. Um die Authentizität, mit der sie schreibt, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um Körperliches geht und um den Hauch von Witz und Ironie mit der sie das Thema “Suizid” mit ihren perfekt gewählten Worten einsprüht. Schwärzer als in “Permafrost” kann Humor fast nicht sein. Ich habe mir viele Sätze markiert in diesem Buch, einfach weil sie so schön und wahrhaftig sind. Zum Beispiel: “Like love, death catches the body. So let it be caught unawares.” (S. 13) oder “Sex distances me from death, though it doesn’t bring me closer to life.” (S. 91). Das Buch muss man selbst erlebt haben und kann es trotz der Kürze nicht eben so weglesen.

Das Buch ist der erste Band einer Trilogie - Permafrost, Boulder, Mammut -  in der es um drei lesbische Frauenleben geht. “Mammut” erscheint im Herbst in der Übersetzung bei Schöffling & Co.


Freitag, 6. Juni 2025

"The Darkest Night" von Victoria Hawthorne


Ich mag es, wenn Bücher schräger, überraschender, in irgendeiner Weise anders sind, als ich es von ihnen erwartet habe. Bei “The Darkest Night” von Victoria Hawthorne habe ich einen irgendwie feministischen Suspense-Mystery-Roman mit Hexen erwartet. Zwar habe ich den auch bekommen, aber zusätzlich einen eingeflochtenen queeren Histo. In der Verganenheitshandlung geht es nämlich um die Liebe zweier Frauen im ländlichen Schottland der 1910er Jahre. Die eine ist die Vorfahrin der Jetztzeit-Protagonistin Alisa Reid, die als lehrerin an einer Privatschule arbeitet und in ziemlicher Aufgebrachtheit (warum, erfahren wir erst nach und nach) von London in ihren schottischen Heimatort reist, um bei ihren Großeltern zu sein, die sie aufgezogen haben. Doch ihre demente Großmutter Moira ist verschwunden, ihr Großvater wird gerade mit einer Kopfwunde von einem Krankenwagen abgeholt. Was ist vorgefallen? Hat ihre Großmutter etwas damit zu tun?

Wir reisen also zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her in diesem Roman, was ich persönlich sehr gerne mag. Der generationenübergreifende Konflikt - hier ist es ein “Fluch”, denn die Vorfahrinnen von Alisa wurden als Hexen an einem Felsen über dem Meer verbrannt - der alle Frauen der Geschichte verbindet, ist jetzt nicht mein Lieblings-Motiv. Dafür wurde es einfach zu oft schon durchgekaut: Mehrere Frauen über Generationen verbindet ein Geheimnis: eigentlich ein bisschen gähn! Doch hier wurde es eben mit dem interessanten queeren Twist ein wenig aufgepeppt, dementsprechend mochte ich auch die Geschichte von Elspeth und Selina, die eine der ersten Ärztinnnen im ländlichen Schottland war, am liebsten. Alisa als Protagonistin ist für mich etwas zu pathetisch rübergekommen und sie hat mich als Person auch nicht wirklich gecatcht. Ihren homosexuellen Onkel Doug, der als vielbeschäftigter Vater in einer Regenbogenfamilie mit seinen schwierigen Kindern und der darunter leidenden Beziehung zu seinem Ehemann hadert, mochte ich dann wieder sehr gerne. Er kam sehr lebensecht und sympathisch rüber, weil er eben nicht perfekt ist und das auch zugibt. Er ist einer der wenigen “angenehmen” Männer in diesem Buch, fast der einzige sympathische Hetero-Mann ist Alisas Opa, der “Pop” genannt wird. Und dabei wären wir auch schon beim Hauptthema des Romans: Die Ungerechtigkeiten, die Männer Frauen angetan haben und noch immer antun. Ja, ein hartes Thema, aber it is what it is. Den Schluss fand ich schon etwas unglaubwürdig, aber alles in allem ein gut zu lesender, düsterer Roman aus den schottischen Highlands. Man kann die salzige Meerluft und die erdigen Berge förmlich riechen - der Schauplatz ist ein großer Pluspunkt. Meines Wissens nach noch nicht auf Deutsch übersetzt.


Donnerstag, 29. Mai 2025

"Das Parfum" von Patrick Süskind

Dies ist keine Rezension im klassischen Sinne, sondern ein Leseeindruck, quasi “Das Parfum” revisited, 40 Jahre später. Was soll man noch Neues sagen über einen Roman, der so lange erfolgreich auf dem Buchmarkt existiert und in über 50 Sprachen übersetzt wurde? Ein moderner Klassiker, der zigfach besprochen und auseinandergenommen wurde. Genau. Eine Frage aber kann ich euch in dem Zusammenhang beantworten: Warum habe ich ihn überhaupt erst jetzt zum ersten Mal gelesen? Weil ich ein Weichei war. Ich hatte Deutsch Leistungskurs und nur im Grundkurs haben sie “Das Parfum” gelesen. Jemand erzählte, dass das Ende so furchtbar eklig und grausam sei. Obwohl mich das Buch und die Story immer interessiert und angezogen haben, hatte ich es doch als Lektüre gemieden, eben wegen dem scheinbar grausigen Ende. Spoiler: Es ist gar nicht so schlimm wie befürchtet und ich konnte wunderbar mit diesem Ende leben. Es ist ein gutes, ein sinniges Ende.

Aber warum dann jetzt doch? Nun ja, ich habe ja gerade selbst einen Roman geschrieben und “Das Parfum” wird in meinem Buch intertextuell erwähnt. Manchmal machen literarische Figuren komische Sachen… Also musste/durfte ich auch ran, denn ich wollte nicht unwissender sein als mein Protagonist, der das Buch auch in der Schule gelesen hat. Und ja: Auch ich konnte mich dem Zauber dieser Geschichte, ihrer rohen und harten Originalität, nicht entziehen. Diese Düfte - eine Welt aus Düften! Was Süskind auf so einzigartige Weise gemacht hat - er hat einen der fünf Sinne zum Hauptthema seines Buches gemacht. Und dann hat er einen Antihelden geschaffen, der absolut abstoßend ist und gleichzeitig faszinierend und auf groteske Weise attraktiv. Diese beiden Punkte zusammengenommen machen die Einzigartigkeit von “Das Parfum” aus. Asexuelle Protagonist:innen führen ebenfalls ein Schattendasein in der Literatur. Grenouille ist im klassischen Sinne asexuell, wobei man auch sagen könnte, seine Nase ist sein Geschlechtsteil und seine Erotik nicht die Körperlichkeit, sondern der Geruch.

Was an “Das Parfum” ebenfalls besonders ist, ist die auktoriale Erzählstimme, die wie ein Relikt vergangener Zeiten anmutet und uns erfolgreich vorgaukelt, wir hätten es tatsächlich mit einem zeitgenössischen Roman aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts zu tun. Der Roman “brachte das Erzählen in die deutsche Literatur zurück”, sagt Christine Lötscher auf dem Klappentext.

Patrick Süskind ist einer der mysteriösesten Schreibenden unserer Gegenwart. Im heutigen Literaturbetrieb, in dem Autor:innen medial präsent sein und sich auch ein Stück weit selbst vermarkten müssen, haben es scheue, zurückgezogene Persönlichkeiten wie er eher schwer. Ein Segen, dass er seinen Weltbestseller in einer Zeit schrieb, in der das Werkzeug erster Wahl noch die Schreibmaschine war und Autor:innen es sich leisten konnten, exzentrisch zu sein, Preise abzulehnen und nicht öffentlich aufzutreten. Wer weiß, ob er das heute noch so hätte durchziehen können. Na gut, es gibt im deutschsprachigen Raum noch Walter Moers, der ebenfalls sehr zurückgezogen lebt, aber sonst? 

Ich bin froh, dass meine eigene Geschichte mich dazu inspiriert hat, endlich Grenouilles Geschichte zu lesen. Ich bereue es zu keinem Zeitpunkt und kann endlich sagen, dass ich kein Weichei mehr bin.