Dienstag, 2. September 2025

"Drei Wochen mit Thomas Bernhard in Torremolinos" von Kuhn/Mahler/Mittermayer


Der todkranke Thomas Bernhard unternahm im November/Dezember 1989 eine Reise nach Torremolinos, Spanien. Weil sein Halbbruder und Leibarzt Peter Fabjan seine Arztpraxis nicht alleine lassen wollte, bat Bernhard seine Halbschwester Susanne Kuhn (alle drei haben dieselbe Mutter) ihn zu begleiten. Susanne Kuhn ist ausgebildete Frieseurin und war Maskenbildnerin, hat aber niemals selbst schriftstellerische Ambitionen gehegt. Dennoch wurde ihr bei einer Veranstaltung anlässlich des 90sten Geburtstags ihres Bruders nahegelegt, ihre Erinnerungen an ihn schriftlich festzuhalten und dieses Buch ist das Ergebnis davon.

Es besteht aus eben dem Reisebericht, sehr witzig illustriert von Nicolas Mahler, Kuhns eigenen Erinnerungen als Verschickungskind in Spanien und einem Interview mit dem Bernhard-Forscher Manfred Mittermayer.

Es sind Erinnerungsfragmente, kleine Episoden, Intermezzi, die hier aneinandergereiht werden. Von Susanne Kuhn nüchtern, “unliterarisch” und im Berichtsstil dargeboten. Sie ist halt ein ganz normaler Mensch, der zufällig mit einem berühmten Schriftsteller verwandt ist.

Susanne Kuhn wird quasi zu Bernhards gesundem “Ersatzkörper”. Sie soll für ihn Schuhe anprobieren und im Schuhladen wie auf einem Catwalk damit ‘modeln’, im eiskalten Pool (am besten auch im Meer) schwimmen, an einem Ausflug zur Alhambra teilnehmen. Und ihn natürlich pflegen, was sie aber gerne macht - also fast immer (am Anfang gibt es einen kurzen Streit, als sie vorzeitig abreisen möchte). Susanne Kuhn ist die perfekte Schriftsteller*innen-Halbschwester: unaufgeregt, geradezu pragmatisch und praktisch begegnet sie den Kapriziositäten ihres exzentrischen Halbbruders, der mit dem Tode ringt. Wir erfahren auch Intimes, wie zum Beispiel Bernhards Reaktion auf den schweldenden Konflikt mit seinem Verleger Siegfried Unseld. Wie beruhigend, dass selbst ein Weltliterat wie Bernhard dem Machtapparat Verlagswesen trotz seiner Genialität gewissermaßen ausgeliefert war.

Bernhard ist in seiner Literatur trotzig und sarkastisch angesichts des Unvermeidlichen. Und so ist es auch für die Lesenden und Bernhard-Fans herrlich, sich durch dieses Buch noch einmal am privaten Bernhardschen Humor, den er auch kurz vor seinem Ende nicht verloren hat, zu ergötzen: “Die Empfehlung, mich mit niemand anzufreunden, gab mir Thomas mit auf den Weg: Die Leute wird man dann nicht mehr los!” (S. 48) Empfehlung für Fans.


Mittwoch, 27. August 2025

"An Evening of Long Goodbyes" von Paul Murray


Seit ich “Der Stich der Biene” gelesen habe, ist Paul Murray sowas wie mein “Autoren-Maskottchen” - sprich: Ich liebe seinen Schreibstil und meine mir auch einiges davon abgeschaut und für mich adaptiert zu haben. Außerdem ist er einer der sympathischsten und nahbarsten Schriftsteller, die ich je kennenlernen durfte. Ich habe mir vorgenommen, alles von ihm zu lesen - bislang gibt es vier Romane. “An Evening of Long Goodbyes” ist sein Debütroman aus dem Jahr 2003. Wie immer bei Paul Murray ist der Plot sowohl für die Lachmuskeln als auch für die Tränendrüsen bestens zum Training geeignet - und für das Gehirn sowieso. Man muss allerdings einiges an Sitzfleisch mitbringen, um sich den klein geschriebenen 460-Seiten-Roman in der Ausgabe des Penguin-Verlags gefügig zu machen. Die deutsche Übersetzung gab es mal beim Kunstmann-Verlag, der Murray auf Deutsch verlegt. Momentan ist sie aber - glaube ich - vergriffen.

Der Morgenmäntel mit Troddeln tragende Protagonist des Romans, Charles, ist alles andere als ein durchschnittlicher Mitte-20-Jähriger. Er wirkt eher wie ein gut situierter Großvater, der ständig Longdrinks trinkt und dabei seinen Enkeln die Welt erklärt. Doch diese Welt wird erschüttert, als ihm langsam dämmert, dass das Vermögen, das sein verstorbener Vater ihm, seiner Schwester und seiner psychisch angeschlagenen Mutter hinterlassen hat, mehr als aufgebraucht ist. Dass das feudale Anwesen im Süden Dublins so nicht mehr zu halten ist. Und so stolpert Charles wie ein moderner Odysseus durch ein tragikomisches Schauspiel, in dem ein tragikomisches Schauspiel aufgeführt wird. Seine Schwester, Bel, ist nämlich Schauspielerin und will aus “Amaurot”, so heißt das Familienanwesen, am liebsten ein Theater machen. Doch Charles weiß nicht, wohin mit sich. Schließlich hat er bislang nur alte Hollywoodfilme, das Leben als Neureicher und ein wenig Theologie am Trinity College studiert, letzteres aber abgebrochen. 

Der Roman spielt in den sehr frühen 2000er Jahren, als Irland einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Boom erlebte. Eine spannende Zeit, der Beginn des neuen Jahrtausends. Murray hat den Roman zeitnah am Geschehen geschrieben und so erkennen wir - wenn wir alt genug sind - vieles aus diesen Jahren wieder, die mittlerweile auch über 20 Jahre her und nostalgisch verblasst sind. Die Anfangszeit der Mobiltelefonie, also die Zeit, als Handys noch etwas exotisches und nicht für jedermann zu haben waren. Auch der Beruf des IT-lers war noch relativ frisch und die Jugoslawienkriege, die auch eine wichtige Rolle spielen, gerade erst zu Ende bzw. in den letzten Zügen. 

An vielen Stellen hat mich der Roman zum Lachen gebracht und an ebenso vielen nachdenklich gemacht. Paul Murray kann dieses Balancieren auf dem Tragikomischen wie kaum ein anderer. Außerdem ist er “schuld”, dass ich jetzt einen Crush auf Kate Winslet habe (die Titanic-Szene). Dennoch war ich dann auch irgendwie froh, als Charles am Ende (vielleicht) seine Bestimmung gefunden hat und ich das Buch zuklappen konnte. Zwei “Paul-Murrays” fehlen mir noch und ich bin sicher, dass er schon ein neues Kunstwerk mit der Hand schreibt, denn das macht er so. Was für ein cooler Typ! Trotzdem kann ich das Buch nur für eine gewisse Zielgruppe empfehlen - es ist halt doch aus der Zeit gefallen und das muss man mögen. 


Samstag, 23. August 2025

"Dopamin und Pseudoretten" von Varina Walenda


“Jemand hat mir mal gesagt, dass man die Erinnerung beim Erinnern jedes Mal verfälscht. Sie wird dann wie die Kopie einer Kopie immer verschwommener. Bis man sehr viel Fantasie braucht, um noch etwas zu erkennen.” (S. 7)

Die erste Hälfte von “Dopamin und Pseudoretten” hat richtig Spaß gemacht. Es geht um Janis, der auf dem Papier noch Jana heißt und mitten in der Transition steckt. Er ist 25, in einer Existenzkrise, hat keine Kohle und lebt als Exil-Schwabe in Berlin am Kotti (Kottbusser Tor) in einer WG mit zwei hetero-cis-Frauen. Sein erfolgreicher jüngerer Model-Bruder Marcel hat ihm einen Job als Assistent am Theater verschafft, wo er der Kostümbildnerin Irina zuarbeiten darf. Sie verlieben sich, aber die Beziehung entwickelt sich anders als erhofft.

Ich mag es, dass das Thema Transsein hier auf unverkrampfte und dennoch ernsthafte Weise besprochen wird. Außerdem fand ich die Kodderschnauze und unverblümte Art, die Jannis ausmachen, supi erfrischend. Allerdings muss ich sagen, dass das Ganze dann irgendwann gekippt ist - die Handlung sich mit einem mal zu konstruiert, zu schwer angefühlt hat. Ich habe dem Leichten, “Ungehobelten” der ersten Hälfte nachgetrauert. Es wird auch zunehmend “verworrener” - ich bin nicht mehr ganz durchgestiegen bei manchen Handlungssträngen, z.B. das mit Joachim Schmettau -  und die kurzen Kapitel fühlen sich trotzdem lang und etwas zäh an. Trotzdem hat mich das Ende dann emotional doch wieder abgeholt. Irgendwie schon ein kleiner Trip, dieses Buch und um Drogen und unterschiedliche Bewusstseinszustände geht es ja letztlich auch.

Ob die Roman-Klischee-Aussage “Irgendwo bellt ein Hund” (S. 64) bzw. 104 (“Irgendwo fängt ein Hund an zu bellen.”) - gegen Ende kläfft er dann auch nochmal -  ganz unironisch eingeworfen wurde oder schon Literatursatire ist, werde ich wohl nie erfahren.

Alles in allem interessant und mit Abstrichen lesenswert.

Donnerstag, 7. August 2025

"Öffnet sich der Himmel" von Seán Hewitt


Malerischer Coming-of-age-Roman, den man nie mehr vergisst

Wenn man richtig verliebt ist, mit ganzem Herzen und ganzer Seele, dann gibt es wohl kaum eine schlimmere Erkenntnis, einen größeren Schlag in das rosarote Brille tragende Gesicht, als den Satz: “Er/Sie/They steht einfach nicht auf dich.” Ich bin sicher, die allermeisten von uns haben ihn schon als perfide, vernichtende Stimme der Vernuft im sich grundlose Hoffnungen machenden, verknallten Hinterkopf gehört. Fast noch schlimmer ist es, wenn man einseitige, unglückliche Verliebtheit bei anderen beobachtet und zusehen muss, wie sie in ihr eigenes Elend rennen. Wenn sich diese einseitige Liebe in der Literatur zuträgt, dann befinden wir uns in der Rolle des Voyeurs, aber auch des verschämten Freundes - denn unglückliche Verliebtheit hat auch etwas schamvolles, unangenehmes an sich.

James, der sechzehnjährige Protagonist von “Öffnet sich der Himmel”, ist so ein unglücklich verliebtes Wesen, das man einfach nur in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen möchte. Wir als Lesende lieben mit ihm den schönen, ein Jahr älteren Luke, der wegen seiner schwierigen Familienverhältnisse eine Zeit lang in James’ irischem Dorf Thornmere, bei dessen Onkel und Tante lebt. Wir interpretieren mit James die sanften Zeichen, die auf eine Gegenseitigkeit der Gefühle hindeuten könnte. Wir hoffen, wo es keine Hoffnung gibt, denn wir wissen von Anfang an: Luke wird James nicht zurücklieben und James wird ihm trotzdem ein Leben lang hinterhertrauern.

Schon vom ersten Satz an, hat mich dieses Buch in seinen Bann gezogen. Die Geschichte, die sich hier vor uns auffächert, ist auf die schönstmögliche Art und Weise erzählt worden, wie man Geschichten erzählen kann: blumig, bildreich, sanft, melancholisch, einfühlsam und gelegentlich sogar witzig. Seán Hewitt ist eigentlich Dichter und diese seine genuine Kunstform merkt man seinem ersten Roman auch an: hier wird im wahrsten Sinne des Wortes mit Worten gemalt. 

Dieser Roman hat mich wirklich sehr berührt und gefesselt und deshalb führt das, was ich jetzt sage, auch zu keinerlei Punktabzug und soll nicht als Kritik betrachtet werden. Aber ein Teil von mir möchte mehr wissen. Die Andeutungen, die James als Erwachsener aus der Retrospektive macht, lassen viele Fragen offen. Was ist aus James’ Eltern und seinem Bruder Eddie sowie dessen Krankheit geworden? Wie hat er seinen Mann kennengelernt, was war er für ein Typ und ist die Beziehung zu ihm wirklich wegen Luke auseinandergegangen? Tell me more! Und natürlich die brennendste Frage von allen: Hatten er und Luke danach keinen Kontakt mehr? Hat er von seinem Onkel und seiner Tante keine Infos über ihn erhalten können? Irgendwie macht es aber auch Sinn, dass dieser wundervolle Roman seine Lesenden in einem Zustand der Ungewissheit zurücklässt und sich so von ihnen verabschiedet wie Luke in der Morgendämmerung von James an der Türschwelle. Das Verlangen bleibt und wird niemals vergehen. 

Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Kleiner.

Herzlichen Dank an Suhrkamp und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

Sonntag, 3. August 2025

"Liebesheirat" von Monica Ali


“Liebesheirat”, ein Roman der britischen Autorin Monica Ali, klang so gut. Es sollte um eine interkulturelle Ehe in London gehen. Nämlich um die Ehe von Yasmin und Joe. Die indischstämmige Britin und der Engländer sind beide Ärzte, Ende 20 (oder Anfang 30 hab ich nicht mehr so genau auf dem Schirm) und lieben sich. Sie sind nicht das Problem, sondern die unterschiedlichen Ansichten der beiden Familien. Die Mutter von Joe, mit der er zusammenlebt, ist irgendwie Künstlerin, Uni-Dozentin und Feministin und hält dementsprechend natürlich nichts von Frauen, die sich einem Mann “unterordnen”. Das macht Yasmin auch nicht, aber irgendwie ihre Mutter, die Hausfrau ist und ihr Leben für die Familie “geopfert” hat. Naja, sie treffen dann zum ersten Mal aufeinander und statt eines Feuerwerks an Handlungselementen und brillanter Unterhaltung ob dieser skurrilen Situation, habe ich nur eins gefühlt: gähnende Langeweile. Es wird jedes kleinste Details lang, breit und ausführlich vor uns aufgefächert und ich habe nach 105 Seiten (erstmal) beschlossen, dass ich mir die ganzen 591 Seiten nicht geben will. 

Ich habe eigentlich sowas erwartet wie den Ben-Stiller-Film “Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich”, nur halt intellektueller und weniger Slapstick. Aber dass das so lame wird, war echt schade. Von den Charakteren fand ich einzig den Bruder, dessen Namen ich nicht mehr weiß, einigermaßen spannend. Weil er eben mit Mitte 20 noch zu Hause wohnt und nicht den beruflichen Ehrgeiz seines Vaters und seiner Schwester an den Tag legt. Er ist nicht perfekt und deswegen mag ich ihn. Vielleicht lese ich irgendwann nochmal weiter, um zu wissen, wie es mit ihm weitergeht. Yasmin und Jo interessieren mich leider herzlich wenig.

Übersetzt aus dem Englischen von Dorothee Merkel.


Mittwoch, 30. Juli 2025

Schreiben ist mühelos. Ein paar Gedanken zum Schreibprozess


Ich habe bei jemandem auf Instagram hier sinngemäß gelesen: Ich habe mir solche Mühe gegeben mit der Rezension und dann liken die Leute nur, weil ich ein ausgefallenes Bild dazu gepostet habe. Aufgrunddessen habe ich mich gefragt, ob ich mir jemals “Mühe” gegeben habe mit einer Rezension. Klar habe ich vielleicht schon 1-2 Sekunden länger über eine Formulierung nachgedacht oder sie im Nachhinein wieder gelöscht - aber Mühe gegeben? Nein. Ich schreibe es einfach so, wie es mir durch den Kopf geht. Gerade weil es mich keine Anstrengung kostet, macht mir das Rezensieren ja solchen Spaß. Ich würde es nicht machen, wenn es anstrengend wäre.

Der Gedanke hat mich weitergeführt: Hat mich das Schreiben meines Romans, also das literarische, “Mühe” gekostet? Man stellt sich immer Schriftsteller vor, die mit Disziplin und Arbeitsethos an ihre Texte gehen und so zu Erfolg kommen. Schreiben ist Arbeit, so der Tenor. Aber für mich? Zu keinem einzigen Zeitpunkt. Im Gegenteil: Die Worte sind durch mich durchgeflossen und ich habe mich oft gefühlt wie ein Medium, das meinem Ich-Erzähler und Protagonisten eine Stimme verleiht und seine Worte, die er mir durchgibt, zu Papier bringt. Als würde ich einen intellektuellen Download empfangen - einen Download vom Universum. 

Bis zu meinem Roman war ich nicht wirklich esoterisch veranlagt. So am Rande habe ich mich schon ein bisschen für Naturmystik, Wicca, etc. interessiert. Aber wirklich nur oberflächlich und wenn ich gerade den Edelsteinen und dem Räucherwerk auf den von mir frequentierten Mittelaltermärkten nicht widerstehen konnte. Mittlerweile beschäftige ich mich intensiver mit Meditation, dem “Universum”, früheren Leben und lerne das Kartenlegen - Tarot. Verrückt? Vielleicht, aber die Erfahrung dieses intensiven Schreibprozesses, der mich unglaublich erfüllt hat, hat mich für diese Themen empfänglich gemacht. Mich offen gemacht dafür, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, wie es in meinem liebsten literarischen Werk heißt.

Ich habe einfach keine andere “rationale” Erklärung für diese Mühelosigkeit des Schreibens gefunden und Antworten dafür gesucht. Warum funktioniert das Schreiben wie geschnitten Brot? “Vor allem, WIE du das geschrieben hast", meinte einer meiner Testleser, fände er bewundernswert. Ich selbst ja auch und so richtig kann ich es nicht erklären, außer, dass es vielleicht nicht ganz von meinem Gehirn allein kommt. So empfinde ich es zumindest. Und nein: KI war zu keinem Zeitpunkt im Spiel, wenn man mal von Google-Suchen absieht. 

Übrigens: Nicht nur das Schreiben sollte meiner Meinung nach im besten Falle mühelos passieren, sondern auch das Lesen. Wenn Lektüren anstrengend werden, dann breche ich sie ab. Es sei denn, es handelt sich um ein Rezensionsexemplar und da bin ich auch sehr wählerisch und vorsichtig geworden mittlerweile. Prüfe im Vorfeld genauer, ob es auch wirklich etwas für mich ist.

Also: Ich hoffe, es hat euch keine Mühe gemacht, diesen spontan zusammengezimmerten Text zu lesen und das trifft auch auf alle anderen zu, die aus meiner Feder geflossen sind und noch fließen werden. Eure Vicky


Donnerstag, 24. Juli 2025

"Onigiri" von Yuko Kuhn


Das apfelförmige Holzbrett und der “Opasessel”

Japan, seine Kultur und seine Menschen verbinde ich immer mit einer gewissen “no nonsense”-Einstellung. So nach dem Motto: “Don't make a fuss. It's only life and eventually - it will pass…” Also bloß kein Drama machen angesichts dem unvermeidlichen Spiel und Zyklus des Lebens. Gute Miene und sich keine Blöße geben, ein freundliches Lächeln aufsetzen - Augen zu und durch. Und ich muss sagen, der Roman “Onigiri” von Yuko Kuhn hat mir auch genau diese “vernünftige Lebenseinstellung”, die ich mit Japaner*innen assoziiere, gespiegelt. 

Yuko Kuhn hat einen Roman geschrieben, von dem ich mir vorstellen könnte, dass er autofiktional ist. Ihre Lebensgeschichte deckt sich in vielen Punkten mit der der Protagonistin Aki: Deutsch-Japanerin,1983 in München geboren und aufgewachsen, Studium in Passau und Südfrankreich, etc. Aber ich kann verstehen, dass sie das Ganze in ein fiktionales Konstrukt mit anderen Namen gehüllt hat, die eigene Identität nicht zu 100% preisgeben wollte, ein wenig im Verborgenen lassen.

Das Kernthema des Romans ist Akis Beziehung zu ihrer an Demenz erkrankten Mutter Keiko, mit der sie ein letztes Mal in deren Heimat Japan reisen möchte. Um dieses Ereignis herum entspinnt sich ein bunter Fächer von anachronisch durchgewürfelten Szenen, in denen Aki von sich selbst und ihrer Familie erzählt. In den alternierenden Prosahäppchen (Häppchen passend zum Titel) sind wir mal bei ihren intellektuellen deutschen Großeltern in Baden-Württemberg und tafeln mit dem Silberbesteck der Boomer-Wohlstands-Generation, sitzen auf dem “Opasessel”. Dann wieder bei ihrem psychisch kranken Vater, der seine Kinder - Aki hat noch einen älteren Bruder, Kenta - nur selten sieht, sich von seiner kleinen Familie entfremdet hat. Und dann geht es wieder um die uralte japanische Matriarchin Yasuko und deren Tochter Keiko, die sich in Deutschland zurechtgefunden hat und doch nie ganz angekommen ist. Schließlich ist da natürlich Aki selbst, die zwischen den Kulturen aufwächst und sich dabei selbst finden muss. 

Es geht um die winzigen Details, die ein Leben ausmachen. Um alles, was wir so ansammeln - in unseren Behausungen und in unseren Köpfen. Und um das, was uns wieder genommen wird, wenn wir im Alter wieder zu einem vergangenheits- und dingelosen Wesen werden. Der Zeitgeist der Generation der Xennials, der sowohl ich als auch die Autorin angehören, wurde meiner Meinung nach perfekt eingefangen. 

“Onigiri” ist das Lieblingsgericht der Ich-Erzählerin, das die Mutter ihr und ihrem Bruder immer gemacht und auf einem alten, apfelförmigen Brett serviert hat. Es ist quasi das Leitmotiv dieses Romans, in dem es um das Erinnern geht. Die Demenz von Akis Mutter hat es ihr unmöglich gemacht, für sich oder andere zu sorgen und somit gibt es auch kein von ihrer Mutter zubereitetes Onigiri mehr. Und jeder, der mal jemanden hatte, der ein Gericht auf eine besondere Weise zubereitet hat und das nicht mehr kann, weiß, welcher Schmerz alleine in dieser Tatsache steckt - ein Essen, das ganz besonders schöne Emotionen auslöst, in der Zubereitung durch diesen einen speziellen Menschen für immer verloren zu haben.

Herzlichen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar und die Zugaben!