Samstag, 29. November 2025

"Luzifers Burnout" von Alex Flach

 


Der Teufel ist auch nur ein Mensch


Der Teufel hat keine Lobby. Seine Fürsprecher wie Satanist*innen sind zurecht negativ behaftet und werden gerne mit geopferten Hühnern in Verbindung gebracht. Unappetitlich und unschön, warum also sollte man dem “Fürst der Finsternis”, wie er im Lauf der Menschheitsgeschichte gerne genannt wurde, auch nur einen positiven Gedanken entgegenbringen? Er ist schließlich das Böse in Person.


Der Schweizer Autor Alex Flach hat einen erfrischend anderen Ansatz gewählt, um sich literarisch mit dem personifizierten Übel auseinanderzusetzen. Er lässt ihn in “Luzifers Burnout” nicht nur in der humanen Gestalt eines relativ attraktiven vierzigjährigen Mannes auftreten, sondern er lässt ihn auch an einem allzu menschlichen Problem unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft leiden: Burnout.


Der Teufel heißt bei Flach ganz klassisch: Luzifer, der gefallene, von Gott einst geliebte, aber aufgrund von Fehlverhaltens aus dem Himmel verstoßene Engel. Weil Gott irgendwie doch noch an ihm hängt, hat er Luzifer den Posten des Höllenchefs überlassen. Er ist der Herr über diejenigen, die sich im Leben nicht gut benommen haben und nun ein Daseins der ewigen Langeweile und Eintönigkeit in einem stadtähnlichen, betongrauen Ort zu fristen, an dem Busse ohne Sitzplätze stets überbelegt sind und an dem es das ganze Jahr lang November ist. Zum Glück hat er seinen besten Freund Samael, ebenfalls ein ehemaliger Engel, der zum Dämon abgestiegen ist. Doch selbst er und Samaels Frau Lilith können Luzifer in letzter Zeit nicht mehr aufheitern. Luzifer gesteht ihm schließlich, dass er depressive Gedanken hat und seit sechs Monaten keinen Menschen mehr in teuflische Versuchung geführt hat. Der Teufel “underperformed”, hält die Geschäftsziele nicht ein, sabotiert die eigene Firma. Was tun? Ihm kann nur eins helfen: ein Sabbatical, eine Auszeit - und zwar auf der Erde, bei den Sterblichen. Denn der Tod ist nicht für die Ewigen.


Natürlich bleibt es sowohl “oben” als auch “unten” nicht unbemerkt, wenn der Geschäftsführer eines derart wichtigen und erfolgreichen Unternehmens wie der Hölle sich einfach für eine unbestimmte Zeit verzieht, so nach dem Kerkeling-Motto: “Ich bin dann mal weg.” Im Zuge dessen kommen dann plötzlich die nicht ganz so schönen Seiten der vermeintlich Guten, der Himmlischen, zum Vorschein. Und als sich dann zwischen der schönen, ehrgeizigen und einzigen Erzengelin Ayla und dem Höllenvorsteher auch noch eine Liebesgeschichte abzeichnet, geht es plötzlich - ganz menschlich - drunter und drüber. 


Das Buch klingt auf den ersten Blick relativ humorig und das ist es an vielen Stellen auch. Dennoch werden auch ernste Themenkomplexe verhandelt. Allen voran ist das der massenhafte Missbrauch von Kindern durch katholische Priester. Gott höchstpersönlich prangert im Rahmen des “Jüngsten Gerichts” diese Grausamkeit an, er hat deren Beendigung zur “Chefsache” erklärt und wir können alle nur hoffen, dass auch der echte seinem literarischen Vorbild Folge leisten wird.


Überhaupt Gott - er ist schon eine Type. Raucht Zigarren und spielt Golf mit MEGA (Make Eternity Great Again)-Cap, um sich über Trump lustig zu machen. Moralisch ist er, also Gott, aber selbstverständlich einwandfrei und überdies Feminist - was auch sonst, er ist ja schließlich der Allmächtige!


Über dieses Buch könnte man noch viel mehr schreiben. Dass es viel in Clubs spielt, zum Beispiel, weil der Autor wohl selbst einmal einen (oder mehrere) Nachtclubs besessen hat. Dass der Erzengel Michael ein aufgeblasener Angeber zu sein scheint und dass das ziemlich witzig ist. Aber im Grunde solltet ihr das Buch selbst lesen, wenn ihr Humor habt und nicht gleich dort Blasphemie schreit, wo es sich doch nur um künstlerische Ideenfreiheit handelt.


Alex Flach hat in “Luzifers Burnout” mit sehr viel erzählerischer Leichtigkeit theologisches Wissen und philosophische Klugheit in eine göttlich-teuflische Komödie gepackt, die ihresgleichen sucht. Ein kluger, witziger und origineller Roman!


Herzlichen Dank an den Schweizer Th. Gut Verlag für das Rezensionsexemplar!


Montag, 24. November 2025

"Mord im Planetarium" von Beate Maly

 


Anton und Ernestine schauen in die Sterne


Vorab: “Mord im Planetarium”, erschienen im November 2025, ist eigentlich der zehnte Fall der Reihe um Anton und Ernestine, die im Wien der 1920er Jahre gemeinsam Kriminalfälle lösen. Tatsächlich ist aber im September 2025 ein Weihnachtsbuch mit den beiden erschienen: “Advent im Grandhotel”, die “Geschichte” spielt im Dezember 1926. Leider habe ich diesen Band übersehen, aber in ihm passieren einige Dinge, auf die in “Mord im Planetarium” referenziert wird. Zu meiner Verständnisproblematik, was die Chronologie der Bände betrifft, weiter unten mehr.


Sommer 1927. Ernestine hat Karten für die Eröffnung des ersten Planetariums Österreichs ergattert. Natürlich muss die ganze Familie mit, bis auf Julian, den Sohn von Heide und Erich, der von einer Freundin der Familie betreut wird. Bei der Eröffnungsfeier gibt es einen Familienstreit zwischen zwei Brüdern - der eine Arzt, der andere Chef der familieneigenen Stofffabrik. Der Arzt wird von seinem Bruder niedergeschlagen und bei der Vorführung im Planetarium fällt er plötzli htot um. Wer hat den angesehenen Arzt und Vater einer erwachsenen Tochter, die in der Stofffabrik des Bruders arbeitet, umgebracht?


Dieser Band ist weitaus ernster als die anderen Bände der Reihe. Anton isst nicht dauernd süße Köstlichkeiten und die humorige Stimmung abseits des eigentlichen Kriminalfalls hält sich auch ansonsten in Grenzen. In Wien gibt es Unruhen anlässlich des “Schattendorfprozesses”, die politischen Lager verhärten sich und schließlich gibt es eine gewaltsame Ausschreitung mit zahlreichen Opfern und der Justizpalast brennt. Die Rahmenbedingungen der fiktiven Kriminalhandlung sind alles andere als “cosy”. Auch Ernestine wirkt sehr nachdenklich in diesem Band. Sie ist weitaus weniger optimistisch gestimmt als sonst. Sie hat Angst um ihre erst im fortgeschrittenen Alter gefundene Familie. Im Zuge dessen denkt sie über ihre vom “Lehrerzölibat” geprägte Vergangenheit nach, welches sie daran gehindert hat, eine eigene Familie zu gründen. Das passt sehr gut zu der ganzen Rahmensituation, in der wir uns befinden. Die über allem wabernde Stimmung ist äußerst melancholisch.


Was mich persönlich sehr berührt hat, ist, dass eine der Figuren aus der Krimihandlung eine Krankheit hat, unter der auch meine Oma leidet: Trigeminusneuralgie. Ich fand es toll und überfällig, dass diese äußerst schmerzhafte Krankheit, die kaum jemand zu kennen scheint, mal in einem literarischen Werk Erwähnung findet.


Ich habe nur ein klitzekleines Logikproblem und das betrifft das Alter von Julian, dem Sohn von Heide und Erich. “Mord im Böhmischen Prater” spielte im Herbst 2025 und da war Hilde hochschwanger und es wurde gesagt, sie würde im “Jänner” entbinden, was dann Januar 1926 wäre. Jetzt spielt die Handlung aber im Sommer 1927 und das Baby, so wird es gesagt, wäre seit “Jänner” da. Dann wäre es ca. sieben Monate und es passt auch dazu, dass eben noch gestillt wird und trotzdem versucht wird, den Jungen an Beikost zu gewöhnen. Ebenfalls wird oft thematisiert, wie müde Erich und Hilde sind, weil sie ein Baby zu Hause haben, das noch nicht durchschläft. Problem: Das Buch spielt im Sommer 1927 und da müsste das Baby schon eineinhalb und damit kein Baby mehr sein. Entweder ich übersehe grundlegend etwas, oder hier hat sich tatsächlich ein kleiner zeitlicher Fehler eingeschlichen. Vielleicht können mich Beate Maly selbst oder der Emons Verlag aufklären. Ich wäre euch sehr zu Dank verpflichtet. 


Ansonsten war die Krimihandlung wieder gewohnt spannend, diesmal sehr Agatha-Christie-mäßig auf einen kleinen Personenkreis von Verdächtigen ausgelegt, in dem schon eine gewaltige Prise “Soap-Potenzial” steckt. Aber das ist keinesfalls negativ gemeint, es war sehr unterhaltsam. Tatsächlich kam der Fall an sich diesmal eher unterhaltsam-cosy-krimi-mäßig rüber, wohingegen die Umstände in der Rahmenhandlung die Ernsthaftigkeit geliefert haben. Ich hoffe ihr versteht, wie ich das meine. Sonst ist es in der Regel bei dieser Reihe umgekehrt.


Ich muss natürlich unbedingt jetzt noch den Weihnachtsband von Anton und Ernestine lesen - dann bin ich endlich up to date und kann sehnsüchtig auf den nächsten Fall warten. 


Herzlichen Dank an den emons Verlag für das Rezensionsexemplar!




Donnerstag, 20. November 2025

"Über die Berechnung des Rauminhalts II." von Solvej Balle

 


Der unerbittliche 18. November


Heute ist der 20. November. Ich bin in der Zeit fortgeschritten, der 18. November liegt für mich schon zwei Tage zurück. Der 18. November ist für die meisten Menschen ein ganz normaler Tag, es sei denn, sie haben Geburtstag oder ein anderes wichtiges Ereignis an diesem Tag zu begehen. Nicht so für Tara Selter, die Protagonistin und Ich-Erzählerin aus “Über die Berechnung des Rauminhalts” von Solvej Balle. Für die belgisch-britische Französin, die von Beruf antiquarische Buchhändlerin ist, wiederholt sich der 18.11 immer und immer wieder, sie ist in einer Zeitschleife gefangen.


Seit ich letztes Jahr am 18.11 mit der Reihe angefangen habe, bin ich großer Fan und doch habe ich im Laufe des Jahres nicht mehr weitergelesen. Vier Bände des auf sieben Bände angelegten Werks sind bereits von Peter Urban-Halle für Matthes & Seitz Berlin vom Dänischen ins Deutsche übersetzt worden und trotz der Begeisterung habe ich erst jetzt wieder, an einem 18.11, zu Band II gegriffen. Es kam mir irgendwie falsch vor, nicht am oder um den 18.11 den “Rauminhalt” zu lesen. Gleichzeitig werde ich am 18.11, so oft der Tag auch für mich wiederkehren möge, keine andere Buchreihe, keinen anderen Roman lesen können als: “Über die Berechnung des Rauminhalts” von Solvej Balle.


Dabei wäre es - zumindest was Band II betrifft - eigentlich passend gewesen. Denn in diesem Buch versucht Tara aus der Gleichzeitigkeit ihrer Umstände, dem Immergleichen “ihres” 18. November auszubrechen und sie fängt quasi an, im 18.11 die Jahreszeiten zu suchen. Sie konstruiert sich künstlich das Zeitvergehen, das sie anhand von meteorologischen Markern festmacht, die den Jahreszeitenwechsel indizieren. Sie reist durch ganz Europa, um richtigen Winter mit Schnee (in Skandinavien), einen Frühling mit neugeborenen Schafen (in Süd-Cornwall), einen warmen Sommertag (in Südrankreich) und schließlich milde Frühherbsttage (im Rheinland) zu erleben.


Die Szene, wo sie mit ihren Eltern in Brüssel Weihnachten feiert, ist geradezu rührend. Wie sie selbst versucht, eine Illusion zu erzeugen, die Zeitschleife zu überlisten, indem sie den Christmaspudding mit ins Bett nimmt. Denn die Sachen in ihrem Bett neigen dazu, nicht zu verschwinden, so wie sie selbst auch ihre Erinnerungen an die täglich wiederkehrenden 18. November behält - nur alle anderen nicht. Wir lernen in diesem Band mehr über Taras Vergangenheit und ihre Weltsicht. Thomas, ihr Mann, der im ersten Band viel Raum eingenommen hat, wird nicht so oft erwähnt. Er bleibt in ihrem Haus in Frankreich, Tara trifft ihn nicht, sie denkt nur an ihn, wenn sie an Körperlichkeit und Glück denkt.


Ich habe wieder so viel angestrichen, mir so viel von dieser ruhigen, philosophischen Prosa merken wollen. Zum Beispiel die Resignation, das Akzeptieren, dass ihre Jahressimulation eine Farce war: “Vielleicht soll ich einfach in der Welt leben, wie sie ist, und akzeptieren, dass es keine Feiertage mehr gibt, kein Weihnachten, kein Neujahr, dass ich nie mehr Winter oder Frühling erleben werde, kein Ostern, keinen Sommer. Nur November. November.” (S. 142)


Ich weiß nicht, ob ich ein ganzes Jahr auf Buch III warten will. Nicht nach dem Cliffhanger am Ende. Wie soll ich es aushalten, dass mein 18. November sich nur einmal im Jahr wiederholt?



Donnerstag, 13. November 2025

"Mord im Böhmischen Prater" von Beate Maly

 



Wie immer ein Wiener Schmankerl in Buchform


Kurz bevor der zehnte Fall des historischen Wiener “Ermittlerpärchens” Anton Böck und Ernestine Kirsch erschienen ist, habe ich es jetzt endlich geschafft den letztes Jahr veröffentlichten neunten Band der von mir so geliebten Reihe zu lesen: “Mord im Böhmischen Prater”. Beate Maly ist eine Schnell- und Vielschreiberin und schafft es dabei gleichzeitig bravourös, eine gleichbleibende hohe Qualität abzuliefern: bewundernswert.


Wer die Reihe noch nicht kennt, sollte das als Krimi- und Histoliebhaber*in schnell nachholen und mit “Tod am Semmering” starten. Jedes Mal werden der Apotheker im (Un-)Ruhestand und die pensionierte Lateinlehrerin, die mittlerweile ein Liebespaar sind, in ihrer Heimatstadt Wien unfreiwillig in Kriminalfälle verwickelt. Das sehr zum Leidwesen von Antons Schwiegersohn Erich, der Kriminalpolizist ist. Und jedes Mal steht eine bestimmte Wiener Örtlichkeit (oder Sehenswürdigkeit) im Zentrum des Geschehens, was die Reihe neben den beiden ermittelnden Hauptpersonen meines Erachtens so “charmant” macht. Im Nachwort dieses Bandes schreibt Beate Maly: “Wien und seine Umgebung bieten noch zahlreiche wunderschöne Orte, an denen Verbrechen begangen werden können. Ich freue mich schon darauf, über sie schreiben zu dürfen.” Ein Ende ist also zum Glück noch länger nicht in Sicht, was mich als Fan der ersten Stunde besonders freut.


Nun also hat es Anton und Ernestine mit ihrer achtjährigen Enkelin Rosa an den Rand Wiens verschlagen. An einem sonnigen Nachmittag im Herbst 1925 (ja genau, also vor exakt 100 Jahren von heute aus gesehen) wollen sie ein wenig im “Böhmischen Prater” chillen, einem kleinen Bruder des Würstelpraters, der extra für die Arbeitenden in den benachbarten Ziegelfabriken als Erholungsgebiet geschaffen wurde, wie Maly schreibt. Rosa hat dabei vor allem die Ponys und das Karussell im Sinn, Anton die Mehlspeisen und Ernestine ist halt auch mit dabei. Dumm nur dass es mit dem Frieden vorbei ist, als Rosas Hund Minna sechs Jahre alte menschliche Knochen unter einem Pavillion ausgräbt. Stammen sie etwa von der wunderschönen Mizzy Nowotny, die spurlos verschwunden ist? Und was haben die Bewohner*innen des Böhmischen Praters damit zu tun? Zum Glück hat Ernestine jetzt auch wieder eine Beschäftigung.


Maly schafft es wieder mal wunderbar, ernste Themen wie die Traumata des 1. Weltkrieges, den aufkommenden Antisemitismus und das leidvolle Leben der “Ziegelböhm”, wie die Arbeitenden der Ziegelfabriken genannt wurden, mit der unterhaltsamen Cosy-Crime-Handlung um Anton und Ernestine zu verbinden. Auch wenn ich diesmal schon wieder kurz nach der Hälfte etwa einen richtigen Verdacht hatte, wer die Tat(en) begangen haben könnte, war dieser Histo-Krimi wie immer spannend bis zum Schluss. Man weiß einfach mittlerweile, was man bei dieser Reihe bekommt: einen unterhaltsamen, kurzweiligen, sehr gut recherchierten und damit lehrreichen Roman, der mir ähnlich gut geschmeckt hat wie Anton die Powidltascherl von Frau Benesch. Und der mich dazu animiert hat, sofort mit dem nächsten Band - “Mord im Planetarium” - weiterzumachen. 


Herzlichen Dank an den emons Verlag für das Rezensionsexemplar!


Freitag, 7. November 2025

"Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels" von Vea Kaiser

 


Ein Roman zum Sattessen


“Fabula Rasa oder Die Königin des Grand Hotels” von Vea Kaiser, die Geschichte einer “Betrügerin aus Mutterliebe”, hat mich restlos begeistert und wunderbar unterhalten. Ganz besonders schön finde ich, dass der Verlag hier mal wieder einem umfangreichen zeitgenössischen Roman von 556 Seiten eine Bühne bereitet hat. Schön, dass Autor*innen mal wieder episch werden dürfen in unserer schnelllebigen Tik-Tok-Zeit, dass man auch mal die kleinen Details erwähnen kann, die das Leben ausmachen. Die Geschichte von Frau Moser wird ausführlich beschrieben und sie braucht diesen Raum, um die Lesenden auf ihre Seite zu ziehen.


Es geht eben um Angelika Moser, die wir im Wien der Achtziger Jahre kennenlernen, wo sie im Grandhotel Frohner als Buchhalterin anfängt. Sie ist Ende zwanzig, als wir sie zum ersten Mal während der Haupthandlung “treffen” und in ihren 60ern, als wir sie wieder verlassen. Wir erleben sozusagen Angelikas Aufstieg und Fall in der “Rushhour ihres Lebens”, in der Zeit, in der das Leben in die entscheidenden Bahnen gelenkt wird, hautnah mit. Eine wichtige Rolle spielen dabei ihre “Männergeschichten”, mal mehr mal weniger relevant - vom langweiligen Apotheker Berti über die Liebe ihres Lebens Freddy, künstlerischer Freigeist und Vater ihres Sohnes bis hin zu Julius Frohner, dem Jüngeren und Thomas, dem agilen Augenarzt. Konstanten in ihrem Sozialleben sind natürlich die Mutter Erna Moser, die sie als strenge Alleinerziehende im Gemeindebau (dem Veza-Canetti-Hof) großgezogen hat und natürlich die liebevolle Beziehung zu ihrem Sohn Sebastian, der schließlich der Grund ist, warum sie zur Verbrecherin wird.


Ich habe selten - eigentlich noch nie so realistisch - die Beschreibung der Mühsal gelesen, die es neben dem übervollen Tank an Liebe auch bedeutet, einen Säugling und später ein Kind zu haben. Die Problematik der frühen - also der gerade eben erst geschehenen - Mutterschaft - all die Schmerzen, all die Schlaflosigkeit, all die Selbstaufgabe und schließlich all die “großen Sorgen”, wenn die Kinder älter werden. Sehr gut gefallen haben mir auch die “autofiktionalen” Passagen, in denen Vea Kaiser wie ungefiltert über ihren langwierigen Schreibprozess am Roman berichtet bzw. über den der nicht namentlich genannten Autorin. Sie reflektiert darin auch über die Problematik schreibender Mütter, für die das Freischaufeln von schriftstellerischer Arbeitszeit mit einem Balance- und Kraftakt gleichzusetzen ist: “Wie soll man mit einem Kleinkind unauffällig recherchieren? Wo bringt man ein Kleinkind unter, um drei Monate lang im Rahmen eines Aufenthaltsstipendium konzentriert zu schreiben? Wie vereinbart man Schulpflicht mit Lesereisen?” (S.117)


Ein Roman wie das Leben, ein Roman voller Wiener Lebenslust und Todessehnsucht. Voller fetttriefender Debreziner, “Opernballleichen” und Wirtschaftskriminalität. Beeindruckend, welches Finanzwissen Vea Kaiser an den Tag legt. Beeindruckend, wie satt und schön und unterhaltsam sie erzählt. Hier muss wirklich kein/e Leser*in Hunger leiden. Absolute und uneingeschränkte Empfehlung.


Herzlichen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar und die Gimmicks!


Sonntag, 26. Oktober 2025

"Ennos Tanz" von Frank Holger Schneider

 



Frecher und erfrischender Coming-of-Age-Roman


Es ist tiefster Herbst, aber heute gibt es nochmal ein Sommerbuch. Einfach, weil es erst im Oktober erschienen ist.


Frank Holger Schneiders Protagonist, der 14-jährige Enno, ist keiner, der ein Blatt vor den Mund nimmt. In seinem Gedankenstrom kommen sowohl Kraftausdrücke am laufenden Band vor, als auch gnadenloses Bodyshaming. Doch was sich nach außen hin als politisch inkorrekt und vulgär präsentieren könnte, ist eigentlich nur eins: authentisch. Jugendliche denken so. Genau so. Und deswegen hat der Roman es auch nach wenigen Seiten bereits geschafft, mich auf seine Seite zu ziehen, mich zu Ennos Komplizin zu machen. Ich habe mitgefiebert, was bei diesem Ausreißer-Sommerferien-Trip durch Ba-Wü als nächstes passiert und mich immer mehr an Enno und seine unverblümte Ausdrucksweise gewöhnt. Man fühlt sich wirklich 1:1 im Kopf dieses Jungen, der keine schlimme Kindheit hat oder hatte, aus einem “Besserverdiener-Elternhaus” stammt und einfach nur einmal ein wenig Dampf ablassen möchte, während seine Eltern im immergleichen Ostsee-Urlaub weilen. Die Leichtigkeit von Ennos Situation lässt eine gewisse Schwerelosigkeit und ein Wohlgefühl entstehen, da die Lesenden mit ihm eigentlich kein Mitleid haben müssen und sich an seiner unverstellten Jugendlichkeit, an seinen adoleszenten, ungeschliffenen Gedanken erfreuen dürfen. Man merkt ganz klar, dass Schneider einen Theaterhintergrund und sich u.a. mit Brecht auseinandergesetzt hat, denn immer wieder durchbricht sein Protagonist die dritte Wand und spricht die Lesenden direkt an.


Was mir besonders an “Ennos Tanz” gefällt und ich dementsprechend hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass das Buch ohne viel Pathos auskommt und eine große Schreibfreude ausstrahlt. Man merkt hier, dass das Buch für die Leser*innen geschrieben wurde und nicht etwa für Kritiker*innen bzw. das Feuilleton. Auch wenn sehr kluge Gedanken darin vorkommen und die Belesenheit des Autors an vielen Stellen durchblitzt, verschmelzen auch diese Inhalte ganz natürlich mit der authentischen Prosa, die hier verfasst wurde. So könnte ein 14-jähriger - bis auf kleine Abstriche (wie Goethe schon gesagt hat, etc.) - wirklich denken. Und natürlich weiß Schneider genau, was er tut: da kommen knufflige Omas mit auf den ersten Blick sehr fragwürdigen Hobbies vor und Menschen, die sich auf den zweiten Blick als anders erweisen, als sie es auf den ersten Blick schienen. Klar, solche Elemente kennt man aus vielen literarischen Werken, aber warum sollte man sie nicht nutzen, wenn man weiß, dass sie funktionieren?


Einen kleinen Kritikpunkt habe ich dennoch: Ich hätte mir gewünscht, dass die schon sehr seltsame Situation rund um Lotti aufgeklärt werden würde. Aber leider lässt der Autor uns - und auch Enno - diesbezüglich im Dunkeln. 


Nichtsdestotrotz ist dieser sympathische Roman eine große Empfehlung für alle Lesenden, die Coming-of-Age-Romane lieben und außerdem interessant für diejenigen, die Baden-Württemberg und die Gegend um Konstanz gut kennen oder sogar dort verwurzelt sind. 4,5 Sterne (aufgerundet) mit Herz.


Herzlichen Dank an Kröner Edition Klöpfer und Frank Holger Schneider für das Rezensionsexemplar!


Sonntag, 19. Oktober 2025

"Familiensache" von Claire Lynch

 



Als Scheidungskind kann ich aus eigener, leidvoller Erfahrung sagen: Wenn eine Familie auseinanderbricht, ist es eine Schlacht ohne Sieger. Maggie, die Protagonistin von Claire Lynchs Roman “Familiensache”, ist (so wie ich) 43 und hat durch die Scheidung ihrer Eltern nicht, wie es üblich wäre und wie es auch in meinem Fall war, den Vater verloren, sondern die Mutter. Der Roman spielt in England und spürt auf zwei Zeitebenen dem Verfall von Maggies Familie nach. Auf der Gegenwartsebene (2022/23) lernen wir Heron kennen, Maggies Vater, der nach einer Krebsdiagnose die Fassung verliert. Bei Heron ist Maggie aufgewachsen, zu ihrer Mutter Dawn hat sie seit vierzig Jahren keinen Kontakt mehr und kaum eine Erinnerung an sie. 


In der Vergangenheitshandlung fächert sich Dawns Schicksal vor uns auf. Wir schreiben das Jahr 1982. Dawn lebt in einer englischen Ortschaft, sie ist 23, Hausfrau mit Kleinkind und lernt bei einem Flohmarkt die Lehrerin Hazel kennen. Ohne viel Umschweife verlieben sich die Frauen ineinander. Wir beobachten, wie Dawn mit sich ringt, wie sie zwischen ihrem alten und neuen Leben hin- und hergerissen ist. Sie entscheidet sich für das Geständnis, sagt ihrem Ehemann die Wahrheit und verliert bis auf Hazel alles, was ihr lieb und teuer war: allem voran ihre Tochter Maggie.


Durch die Schilderung von Dawns prekärer Situation und auch durch ein Nachwort klärt uns die Autorin über die missliche Lage lesbischer Mütter auf, die sich eigentlich erst in den letzten 10, 20 Jahren gebessert hat. In den achtziger Jahren, wo die Handlung spielt, wurden im Fall einer gleichgeschlechtlichen Beziehung der Mutter, die Kinder fast automatisch allein dem Vater zugesprochen. Diese Ungerechtigkeit, die sicher für viele betroffene Kinder wie Maggie psychologische Folgen hatte, ist heute zum Glück das Relikt einer reaktionären Vergangenheit. 


Der Roman verhandelt in jedem Fall ein wichtiges Thema. Als literarisches Werk hat er mich stellenweise überzeugt, vor allem wenn Herons Perspektive zutage kam. Er wurde nicht automatisch als “der Böse” abgestempelt, sondern auch seine Situation wurde differenziert betrachtet. Auch seine Welt ist zusammengebrochen, auch er war gewissermaßen ein Opfer und Produkt seiner unfortschrittlichen Zeit. Es wird oft angedeutet, dass er das Vorgehen gegen Dawn als “zu hart” empfindet, aber dennoch auf seinen Vorteil bedacht ist. Auch Maggie hat mir als Figur gut gefallen. Wie sie als Frau und Mutter funktionieren muss und versucht, ihr inneres Kind zu heilen. Das Buch wirkt als Ganzes sehr realistisch, die Gerichtsaussagen sind sogar authentisch, da sie echten Fällen entnommen wurden.


Ein wirklich sehr lesenswertes, ernstes Buch, auch wenn es mich emotional nicht immer so mitgenommen hat, wie ich es mir bei diesem Thema gewünscht hätte. 


Kurze Anmerkung noch: Hervorragend aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Nur warum der Anzug auf Seite 179 von C&A sein muss, erschließt sich mir nicht. Schließlich spielt der Roman in England und der Anzug ist sicher von M&S (Marks&Spencer). Hier kann man den Leser*innen sicher mehr kulturelle Transferleistung zutrauen.


Herzlichen Dank an das Bloggerportal von Random House für das Rezensionsexemplar!