Montag, 16. September 2024

"Western Lane" von Chetna Maroo


Wir sahen einander an, und der Sonnenuntergang in der Western Lane färbte die Schmierflecken an den Wänden orange und pink. Auf dem Jahrmarkt versuchte das todtraurige Pferd den Kopf zu heben.” (S. 175)

In “Western Lane” von Chetna Maroo (übersetzt aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann für Luchterhand), der 2023 auf der Shortlist des renommierten Booker Prize stand, geht es um das Thema Sport als Methode der Trauerverarbeitung. Ist es uns möglich, seelische Prozesse durch körperliche Bewegung zu unterstützen, Trauer zu unterdrücken oder ihre Verarbeitung zu beschleunigen?

Die drei Schwestern Gopi (11), Khush (13) und Mona (15) haben ihre Mutter verloren. Zusammen mit ihrem Vater, der im Buch nur Pa genannt wird, leben sie in einer - wenn ich mich nicht täusche - ungenannten Stadt England (in der Nähe von London). Eines Tages ermuntert der Vater seine drei Kinder dazu, sich mehr zu bewegen und sie beginnen mit dem Squash-Training in der Western Lane. Gopi, die Ich-Erzählerin des Romans, lernt dort Ged (13) kennen, sie trainieren zusammen und freunden sich an. Doch dann droht sich die Familiensituation erneut zu verändern, außerdem wird Gopi immer besser im Squash…

Gopis Familie sind Jains, sie gehören also einer indischen religiösen Minderheit an, die zum Beispiel Vegetarismus/Veganismus propagiert bzw. die Nichtverletzung von Lebewesen und die Welt in Geistiges und Ungeistiges einteilt. Das Geistige sind die unterschiedlichen Seelen, das Ungeistige wird in 5 Kategorien unterteilt: Bewegung, Ruhe, Raum, Stoff und Zeit (Quelle: Wikipedia). Die Vorstellungen der Jains ziehen sich durch den Roman. So wird die vegetarische Ernährung vor allem am fast täglichen Lieblingsgericht des Vaters - Linsen Dal mit Reis - illustriert. Das Pferd auf dem Jahrmarkt wird als jämmerliche und einsame Kreatur von Gopi sehr bedauert - im Jainismus haben auch Tiere eine Seele. Die Verletzung des Vaters durch Gopi während des Squash ist eine große Sache. Die Seele der Mutter wird oft thematisiert, Gopi sieht ihr wohl am ähnlichsten. Was das Ungeistige betrifft, so sind die Themen Bewegung und Ruhe im Hauptthema des Romans - dem Squash-Sport - präsent, der sehr kräftezehrend ist, gerade auch für Heranwachsende.

Obwohl Squash ein sehr lauter Sport ist, ist dieses Buch vor allem eins: leise. Irgendwie verleiht es ein warmes Gefühl, diesen Roman zu lesen. Das mag an der innigen Interaktion der Schwestern oder der zarten Annäherung von Gopi und Ged liegen. Sprache und Erzählstruktur stechen nicht heraus, allerdings macht das Buch dies mit seiner warmherzigen Story und der starken Ich-Erzählerin einigermaßen wett. Ein sehr guter Roman also, der meines Erachtens aber nicht auf der Shortlist des “Booker Prize” hätte stehen müssen. Dafür ist er etwas zu gefällig, zu wenig spröde und zu sehr ganz eindeutig Debütroman. Es mag aber sicher Lesende geben, die für sich das Hervorragende in diesem meines Erachtens sehr guten literarischen Roman finden werden. Auf jeden Fall ist er sehr lesenswert für alle, die leise und warmherzige Coming-of-Age-Geschichten mögen und die das Thema Trauer (Tod der Mutter in ihren frühen Vierzigern) nicht scheuen.

Herzlichen Dank an Luchterhand und Team Bloggerportal für das Rezensionsexemplar!




Freitag, 13. September 2024

"Ein klarer Tag" von Carys Davies


“Ich hätte niemals so viele Schüsseln Milchsuppe von ihm annehmen dürfen. So viel Wärme und so viel heißen Leberpudding. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er mir sein Bett überlässt oder dass er mir Socken und eine Mütze strickt und meinen Mantel ausbessert. Ich hätte ihn nicht ermuntern sollen, mir stundenlang seine eigenartige und komplizierte Sprache beizubringen.” (S. 167)

Wenn man als Leser:in in ein Buch “hineingehen” könnte - völlig inkognito, also ohne die Charaktere zu stören oder die Handlung zu unterbrechen - dann würde ich in “Ein klarer Tag” von Carys Davies (Original “Clear”, für Luchterhand aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné) gehen wollen. Ich würde mich auf der fast einsamen kleinen schottischen Insel umsehen, die salzige Seeluft einatmen und dann beobachten, wie Ivar strickt und spinnt, mit seiner alten Stute Pegi spricht und den Geistlichen John Ferguson gesund pflegt.

Ivar und John sind zwei, die sich die Gesellschaft des jeweils anderen nicht ausgesucht haben und dennoch für mehrere Wochen auf einem einsamen Eiland in der schottischen Nordsee - knapp vor Unst, der nördlichsten Shetland-Insel, koexistieren müssen. Der Roman ist ein historischer, denn er spielt im Jahr 1843. Die Autorin erklärt in einem Nachwort den komplexen geschichtlichen Hintergrund, der mit der Gründung der schottischen Freikirche und der Vertreibung von ganzen Dorfgemeinschaften durch geldgierige Großgrundbesitzer zu tun hat. Ivar ist der, der als einziger verbliebener menschlicher Bewohner von der Insel vertrieben werden soll. Im Auftrag des Besitzers der Insel hat der freikirchliche Pfarrer John Ferguson diesen Auftrag angenommen, um sich und seine Frau Mary weiterhin durchbringen zu können.
Ich will nicht zu viel von der Handlung verraten, aber wer “Brokeback Mountain” von Annie Proulx mochte oder “Die Tage des Wals” von Elizabeth O'Connor, der wird “Ein klarer Tag” lieben.

In diesem Roman spielt das Thema Sprache eine große Rolle. Die altertümliche Inselsprache, die Ivar spricht, ist höchst differenziert und hat für die unterschiedlichsten Zustände und Ereignisse ein eigenes spezielles Wort (siehe Glossar am Ende). Sie ist der bereits 1845 ausgestorbenen Sprache “Norn” nachgebildet, die auf den nördlichsten schottischen Inseln gesprochen wurde. Hier bezeichnen zum Beispiel die Wörter “skump”, “gyolm”, “dunk”, “syora”, “mirkabrod”, “blura” - und andere mehr - unterschiedliche Formen von Nebel. Besonders loben sollte man an dieser Stelle die Übersetzerin Eva Bonné, die eine besonders schwierige Aufgabe hatte und sie perfekt umgesetzt hat. 

John, dessen Muttersprache Englisch ist und der gut Schottisch kann, ist fasziniert davon und versucht sich die Sprache anzueignen. Schließlich nähern sich die beiden so unterschiedlichen Männer - der eine ein eremtischer Naturmensch, der andere ein gebildeter Priester - über die Sprache an. Aber auch der nonverbalen Kommunikation als ureigenem Ausdrucksmedium des Menschen wird in Roman eine Bühne verliehen. Wo Sprache nicht weiterhilft, kommen Blicke, Gesten und körperliche Bewegungen zum Einsatz. Auch dem Tanz ist die wahrscheinlich berührendste Stelle des Romans gewidmet.

Dies ist ein so rohes, so ursprüngliches und wahrhaftiges Leseerlebnis voller echter Emotionalität. Künstlerisch, ohne artifiziell zu sein. Poetisch, ohne jemals kitschig zu werden.
Ungefiltert und trotzdem randvoll mit natürlicher Schönheit, mit der es uns blendet wie das helle Licht eines klaren Tages, das sich für immer in unser Gedächtnis einbrennt. Eines der schönsten, besten Bücher, die ich jemals gelesen habe.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal und an den Luchterhand Verlag für das Rezensionsexemplar!


Mittwoch, 11. September 2024

"Jesolo" von Tanja Raich

“Mit dem Kredit haben wir uns verpflichtet. Mit deinem Haus schlagen wir Wurzeln. Mit diesem Kind führen wir genau dieses Leben, das hier alle führen. Wir werden immer hierbleiben. [...] Keine Großstadt. Kein Madrid. Kein Haus am Meer. Keines dieser Luftschlösser.” (S. 124)

Ich liebe es, Bücher am Ort ihres Geschehens zu lesen. Man bekommt einfach ein anderes Gefühl beim Lesen für die Örtlichkeit - es erzeugt quasi ein dreidimensionales Leseerlebnis. Als ich dies hier schreibe sind wir im Urlaub in Jesolo an der italienischen Adria und da ich “Jesolo” von Tanja Raich schon länger im Regal stehen hatte, habe ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und “Jesolo” in meiner blauen Ikea-Reisetasche nach Jesolo geschleppt.

Aber in diesem Buch spielt nur das erste Kapitel, das hier Kapitel “0” heißt, wirklich in Jesolo. Die allermeiste Zeit spielt es in einem 1000-Einwohner-Dorf in Österreich (glaube ich, die Autorin stammt aus Südtirol, wohnt aber in Wien), in dem die 35-jährige Ich-Erzählerin Andrea (Andi) mit ihrem Lebenspartner Georg lebt, der aus diesem Dorf stammt. Nach dem Urlaub in Jesolo ist sie schwanger und sie wollen die Einliegerwohnung in Georgs Elternhaus renovieren und dort einziehen. Also Georg will das, Andrea fügt sich mehr oder weniger in ihr Schicksal. Denn eigentlich hatte sie andere Pläne. Sie ist Grafikerin und Malerin, träumte von einer Ausstellung ihrer Bilder, war engagiert im Job…Aber die biologische Uhr tickt und Georg will ein geregeltes Leben als Familie führen…Und irgendwann muss der Mensch sich entscheiden - zwischen einem konventionellen Lebensstil und etwas komplett anderem…

In “Jesolo” geht es um die Gedanken einer Frau während der “Rushhour des Lebens”, also der Zeit, in der unser Lebenszug in feste Gleise einfährt, die man nicht mehr so leicht verlassen oder verschieben kann. Es ist eine Tatsache, dass unser Leben ab einem bestimmten Zeitpunkt - für viele Menschen ist dieser zwischen 30 und 40 gekommen - in seinen Grundzügen “entschieden” ist. Man ist in einer festen Partnerschaft, hat ein Zuhause, die Kinderfrage ist geklärt, der Job ist sicher. Wenn es nach dem Durchschnittsmenschen geht. Natürlich gibt es immer noch “unkonventionellere” Lebensentwürfe, aber in einem kleinen Dorf wie dem von Andrea und Georg, sind sie schlichtweg nicht gefragt.

Dieser Roman hat mich mit seiner intensiven Erzählweise überzeugt. Die Protagonistin spricht ihren Lebenspartner Georg qua Du-Anrede direkt an. Besonders fesselnd sind die Gedanken der Ich-Erzählerin, wenn sie sich verschiedene Szenarien ausdenkt. Was als nächstes passieren - ob positiv oder negativ - könnte, was überhaupt in der Zukunft passiert. Damit illustriert die Autorin auf geschickte Weise unsere ausdifferenzierte moderne Welt voller Möglichkeiten. Zu viel Potenzialität ist da draußen, die die Protagonistin in eine Schockstarre fallen lässt. Das befreundete Paar, das zur Ich-Erzählerin und ihrem Partner sagt, dass sie doch mal woanders hin sollten als immer nur nach Jesolo ins selbe Hotel ist ein Sinnbild für dieses moderne Denken, dass man möglichst viel erleben muss, um mithalten zu können - die Diktatur der Potenzialität.

Ein wirklich guter Roman über die Dilemmata einer Lebenszeit, in der man so viel und so viel Wichtiges entscheiden muss, dass es einem über den Kopf zu wachsen droht. Empfehlung!

Montag, 9. September 2024

"Mein Mann" von Maud Ventura


Amour fou mit dem eigenen Mann

Achtung Ironie! Für viele Frauen in einer heteronormativen Ehe ist der eigene Mann nach einiger Zeit mit einem Möbelstück gleichzusetzen: Es ist gut, dass er da ist, ist immer genau an seinem Platz (auf dem Sofa, der Toilette oder vor dem PC), aber er fällt auch nicht mehr groß auf. Er ist wie ein bequemer alter Sessel, in den man sich manchmal fallen lässt, der aber auch oft im Weg rumsteht und gelegentlich abgestaubt werden muss. Kurzum: Er erfüllt seinen Zweck. Was aber nicht heißen muss, dass die Frau beim letzten Familienbesuch im Möbelhaus die anderen, neuen Sessel mit dem aufregenden floralen Muster nicht zumindest aus dem Augenwinkel ein wenig abgecheckt hätte.

Nicht so ergeht es der vierzigjährigen namenlosen Ich-Erzählerin aus “Mein Mann” von Maud Ventura, aus dem Französischen von Michaela Meßner. Die Englischlehrerin und Übersetzerin ist von ihrem Mann so besessen, dass sie am liebsten rund um die Uhr mit ihm zusammensein würde. Selbst ihre beiden Kinder (7 und 9) liebt sie nicht so wie sie ihn liebt, ihren Mann. Dieser Roman ist unglaublich raffiniert erzählt. Die Ich-Erzählerin macht uns Lesende zu Kompliz:innen, zu Mittäter:innen ihrer ungesunden Obsession, die sie Liebe nennt. Durch die Entscheidung, ihren Mann stets nur als “mein Mann” zu bezeichnen, raubt sie ihm jede Identität und Individualität. Er wird zur Persona, zum Jedermann, zur Projektionsfläche für die Vorstellungen der Lesenden. Der Roman einer Entmenschlichung? Auf gewisse Weise schon. 

Es geht hier um die Dynamiken, wie sie in einer Ehe und unter Paaren vorkommen. Um Rollenverteilung und die kleinen Enttäuschungen, die man sich im Laufe der Partnerschaft zugefügt hat. Um die enttäuschten Erwartungen, die man der anderen Person gegenüber nie artikuliert hat
Die Beziehung der Ich-Erzählerin und ihres Mannes wird von ihr unter ein Brennglas gelegt. Sie seziert seine Liebe zu ihr, möchte ganz genau wissen, wie sehr ihr ihr Mann noch zugeneigt ist. Und dafür ist ihr jedes Mittel recht.

Besonders spannend fand ich die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin Synästhetin ist und zum Beispiel die Wochentage mit bestimmten Farben assoziiert. So ist der Montag blau, der Dienstag schwarz, der Mittwoch orange, etc. Und diesen Farben werden bestimmte Eigenschaften zugesprochen, die auch mit den jeweiligen Tagen assoziiert werden. 

Das Paradoxe an meiner Leseerfahrung: Selten habe ich eine so große Distanz zu einer Protagonistin empfunden - ich konnte mich null mit ihr identifizieren - und gleichzeitig das Buch genossen. Normalerweise möchte ich Protagonist:innen sympathisch finden und etwas von mir in ihren wiederfinden. Aber dieses Mal war es regelrecht angenehm und kathartisch dieses nicht zu tun.

Spoiler: Das Buch war für mich wirklich ein ungewöhnliches Leseerlebnis, die Obsession der Protagonistin konsequent, bis zu dem Punkt, wo sie zum ersten Mal fremdgeht. Ja, zum ersten Mal, denn am Ende wird sie zweimal in einer Woche mit zwei verschiedenen anderen Männern schlafen. Natürlich kennen wir dieses Motiv von Maud Venturas Schriftstellerkolleginnen wie z.B. Leïla Slimani und Maria Pourchet. Dennoch dachte ich, dass dieses Buch hier anders ist, weil eben alle Aufmerksamkeit der Protagonistin auf ihren eigenen Mann gerichtet ist. Dass die Autorin aus diesem hervorragend originellen Konzept ausbricht, fand ich sehr schade, zumal das erst im letzten Drittel des Romans passiert (eigentlich ist Donnerstag ihr “Fremdgehtag”).

Bis auf diesen Wermutstropfen fand ich den Roman allerdings erfrischend anders und absolut lesenswert. 


Mittwoch, 4. September 2024

"Die Gräfin" von Irma Nelles


Kurzes Kammerspiel im Wattenmeer 

“Am Horizont glitzerte Südfall im nassen Watt wie ein Kleinod auf Silberpapier. Je näher sie kamen, desto besser waren der dunkelgraue Schlick der Halligkante und die Wasserfarben zwischen vor Hitze ausgetrockneten Salzwiesen zu erkennen; und überall der dichte Teppich mit abwechselnd hellem, dann dunkleren, rosarot oder violett blühendem Strandflieder”. (S. 61)

“Die Gräfin” von Irma Nelles ist mit 169 Seiten wahrlich kein langes Lesevergnügen. Aber dafür ein umso intensiveres. Wie man schon an dem obigen Zitat erkennen kann, schreibt hier eine Person, die hier verwurzelt und der das Watt seit frühester Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Autorin wurde 1946 auf Nordstrand geboren und ist auch dort aufgewachsen. Irma Nelles’ kondensierte Prosa atmet die Flora und Fauna dieses einmaligen Landstrichs, der so eigenwillig und abgelegen ist wie die Geschichte, die uns in “Die Gräfin” erzählt wird und die sich so wohl nur hier abgespielt haben könnte.

Die Handlung spielt an 6 Tagen im Spätsommer auf der Hallig Südfall und der angrenzenden Insel Nordstrand im Wattenmeer. Der zweite Weltkrieg liegt in seinen letzten Atemzügen und man munkelt bereits, dass der Krieg für die Deutschen verloren ist. Für die pazifistische Gräfin Diana von Reventlow-Criminil, die tatsächlich existiert hat (Lebensdaten 1863-1953), ist dies eine gute Nachricht. Die alleinstehende und freiheitsliebende Adelige lebt bereits seit 34 Jahren auf Südfall. Auf dem einzigen Anwesen des Eilandes leben mit ihr nur ihr Angestellter Maschmann, ein kauziger Nordfriese um die fünfzig und Meta, eine junge Frau, die sie nach dem Tod von deren Eltern als “Kostkind” aufnahm und die der alten Damen nun den Haushalt führt. Dieses ruhige Leben in der Einsamkeit des Meeres wird jäh unterbrochen, als der englische Kampfpilot John Philip Gunter auf dem Eiland abstürzt. Die Gräfin handelt sofort und lässt den verletzten Mann von Maschmann in ihr Zuhause schaffen, wo sie und Meta ihn gesund pflegen. Dies muss aber unter höchster Geheimhaltung geschehen, dann einen Feind zu unterstützen galt als Hochverrat. Doch der Aufenthalt des Bruchpiloten löst nicht nur Angstgefühle aus, im Gegenteil…

Generell habe ich immer eine große Scheu vor Romanen, die während des zweiten Weltkriegs in Deutschland spielen, da mich das Ganze doch immer sehr mitnimmt. Bei diesem Werk ist die Zeitgeschichte nur wie durch einen Schleier präsent. Die Gräfin verhilft - so wird es angedeutet - zahlreichen Menschen zur Flucht, verfügt sie doch durch ihren adeligen kosmopolitischen Stammbaum (sie ist halbe Schottin, ihr Bruder hat eine Engländerin geheiratet) durch zahlreiche Kontakte in alle Welt. Auch der Nordstrander Inselarzt Braack, der sich um den Verletzten kümmert, äußert oftmals in der Dorfkneipe seinen Unmut über das Naziregime.

Würden nicht die traurigen Schlagworte des zweiten Weltkriegs bzw des dritten Reiches wie Gestapo etc. durch die Handlung geistern und würde es sich statt eines Kampfpiloten um einen schiffbrüchigen Marineoffizier handeln, so könnte man meinen, ein Werk des 19. Jahrhunderts vor sich zu haben. Die Personen und ihre abgeschiedene Lebensweise mitten im Meer wirken wie aus der Zeit gefallen. Und stellenweise könnte man wirklich denken es mit einer Novelle von Theodor Storm und bei der Gräfin mit einer von Fontanes starken Frauenfiguren zu tun zu haben. Die Kennzeichen der klassischen Novelle kann man jedenfalls allemal abhaken: Eine “unerhörte Begebenheit” (Absturz der Piloten), eine überschaubare Anzahl an handelnden Figuren und die klassische Struktur. Als Leitmotiv würde ich das Flugzeug bezeichnen. Ich mochte die chronologisch-lineare Erzählweise sehr, da sie einen erholsamen Kontrast zum heute modernen “chaotischen” Erzählen darstellt. Vielleicht sollte noch darauf hingewiesen werden, dass Maschmann, den ich als Figur sofort ins Herz geschlossen habe, meist Plattdeutsch spricht und dass das für Unkundige schwer zu lesen ist.

Während ich sonst immer schnell dabei bin, Längen, Redundanzen und eine überambitionierte Seitenzahl in Romanen zu kritisieren, muss ich hier tatsächlich sagen, dass mir das Buch zu schnell vorbei ging. Kaum hatte man sich an die Charaktere gewöhnt und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, haben sie einen auch schon wieder verlassen. Dieses Gefühl der Wehmut, die sich angesichts des abrupten Endes einstellt, spricht aber für das Buch. Die Geschichte der Hallig-Gräfin ist so absonderlich und interessant, dass ich gerne noch viel mehr Lesezeit in diese Figur investiert hätte.

“Die Gräfin” ist ein melancholisches Buch über die Unbarmherzigkeit der Zeit und die Unmöglichkeit, seiner eigenen Chronologie zu entkommen. Für alle, die gern ruhigere Bücher mit einem überschaubaren Personal lesen und sich für das Leben auf einer Hallig interessieren, ist dieser Roman der leisen Töne genau die richtige Lektüre.

Herzlichen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!

Link zum Buch: Die Gräfin