“Mit dem Kredit haben wir uns verpflichtet. Mit deinem Haus schlagen wir Wurzeln. Mit diesem Kind führen wir genau dieses Leben, das hier alle führen. Wir werden immer hierbleiben. [...] Keine Großstadt. Kein Madrid. Kein Haus am Meer. Keines dieser Luftschlösser.” (S. 124)
Ich liebe es, Bücher am Ort ihres Geschehens zu lesen. Man bekommt einfach ein anderes Gefühl beim Lesen für die Örtlichkeit - es erzeugt quasi ein dreidimensionales Leseerlebnis. Als ich dies hier schreibe sind wir im Urlaub in Jesolo an der italienischen Adria und da ich “Jesolo” von Tanja Raich schon länger im Regal stehen hatte, habe ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und “Jesolo” in meiner blauen Ikea-Reisetasche nach Jesolo geschleppt.
Aber in diesem Buch spielt nur das erste Kapitel, das hier Kapitel “0” heißt, wirklich in Jesolo. Die allermeiste Zeit spielt es in einem 1000-Einwohner-Dorf in Österreich (glaube ich, die Autorin stammt aus Südtirol, wohnt aber in Wien), in dem die 35-jährige Ich-Erzählerin Andrea (Andi) mit ihrem Lebenspartner Georg lebt, der aus diesem Dorf stammt. Nach dem Urlaub in Jesolo ist sie schwanger und sie wollen die Einliegerwohnung in Georgs Elternhaus renovieren und dort einziehen. Also Georg will das, Andrea fügt sich mehr oder weniger in ihr Schicksal. Denn eigentlich hatte sie andere Pläne. Sie ist Grafikerin und Malerin, träumte von einer Ausstellung ihrer Bilder, war engagiert im Job…Aber die biologische Uhr tickt und Georg will ein geregeltes Leben als Familie führen…Und irgendwann muss der Mensch sich entscheiden - zwischen einem konventionellen Lebensstil und etwas komplett anderem…
In “Jesolo” geht es um die Gedanken einer Frau während der “Rushhour des Lebens”, also der Zeit, in der unser Lebenszug in feste Gleise einfährt, die man nicht mehr so leicht verlassen oder verschieben kann. Es ist eine Tatsache, dass unser Leben ab einem bestimmten Zeitpunkt - für viele Menschen ist dieser zwischen 30 und 40 gekommen - in seinen Grundzügen “entschieden” ist. Man ist in einer festen Partnerschaft, hat ein Zuhause, die Kinderfrage ist geklärt, der Job ist sicher. Wenn es nach dem Durchschnittsmenschen geht. Natürlich gibt es immer noch “unkonventionellere” Lebensentwürfe, aber in einem kleinen Dorf wie dem von Andrea und Georg, sind sie schlichtweg nicht gefragt.
Dieser Roman hat mich mit seiner intensiven Erzählweise überzeugt. Die Protagonistin spricht ihren Lebenspartner Georg qua Du-Anrede direkt an. Besonders fesselnd sind die Gedanken der Ich-Erzählerin, wenn sie sich verschiedene Szenarien ausdenkt. Was als nächstes passieren - ob positiv oder negativ - könnte, was überhaupt in der Zukunft passiert. Damit illustriert die Autorin auf geschickte Weise unsere ausdifferenzierte moderne Welt voller Möglichkeiten. Zu viel Potenzialität ist da draußen, die die Protagonistin in eine Schockstarre fallen lässt. Das befreundete Paar, das zur Ich-Erzählerin und ihrem Partner sagt, dass sie doch mal woanders hin sollten als immer nur nach Jesolo ins selbe Hotel ist ein Sinnbild für dieses moderne Denken, dass man möglichst viel erleben muss, um mithalten zu können - die Diktatur der Potenzialität.
Ein wirklich guter Roman über die Dilemmata einer Lebenszeit, in der man so viel und so viel Wichtiges entscheiden muss, dass es einem über den Kopf zu wachsen droht. Empfehlung!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.