Mittwoch, 16. Oktober 2024

"Von Norden rollt ein Donner" von Markus Thielemann


Kaum ein Beruf wird so mit Idylle in Verbindung gebracht wie der des Schäfers. In der Literaturgeschichte wurden Schäferinnen und Schäfer romantisiert, wie die barocke Pastoralpoesie bzw. Schäfterdichtung beweist. Auch Shakespeare hat mit “Wie es euch gefällt” ein Schauspiel dieser Gattung geschrieben. Maler haben Schäferinnen und Schäfer auch schon immer gerne zum Motiv ihrer Bilder gemacht.

Die Schäfer*innen in der Lüneburger Heide sind quasi ein lebendiges Kulturgut. Sie betreiben ein uraltes Handwerk, die Arbeit mit den Heidschnucken ist “Landschaftspflege”, wie es im Buch “Von Norden rollt ein Donner” (C.H.Beck) von Markus Thielemann heißt. Das Buch stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und ist der vielleicht größte Überraschungserfolg des deutschen Literaturjahres 2024. Die Presse hat ihn einen “Anti-Heimatroman” genannt. Aber warum eigentlich “anti”?

Die Handlung beginnt im Herbst 2014 und dreht sich um den jungen Ich-Erzähler Jannes Kohlmeyer, der als Schäfer im Familienbetrieb im Naturpark Südheide in Niedersachsen lebt.
Jannes ist gefangen im Netz seiner eigenen Wurzeln. Obwohl er erst neunzehn Jahre alt ist, ist seine Zukunft schon vorher bestimmt: Er wird wahrscheinlich den Betrieb seiner Eltern und Großeltern übernehmen und Heideschäfer werden. Das Thema der Determination durch die eigene Herkunft ist unterschwellig sehr präsent. “Muss der ja selbst wissen, ob der sich das antut?", sagt sein Großvater, der auch von sich sagt: “Ich war Schäfer von Geburt an, so war das eben.” (S. 104). Aber hat Jannes wirklich eine Wahl? Die Opfer, die eine Entscheidung gegen das elterliche Milieu für Jannes bedeuten würden, sind übermenschlich groß. Haus und Hof müssten aufgegeben werden, ein neues Leben mit anderem Beruf angefangen. So, wie es Jannes’ ältere Schwester gemacht hat. Aber Jannes ist nun mal eben schon ein Schäfer und ein Schäfer in der Stadt? Undenkbar! Jannes mag seinen Beruf auch, das ist es gar nicht. “Erst mal mach ich das jetzt.” (S. 102) sagt er zu der Reporterin, die ihn für die Heideschäfer-Doku interviewt. Die Ruhe in der Natur und bei den Tieren, die Vielseitigkeit und dass man alles in einem eigenen Tempo machen kann, das liebt der junge Mann an seinem anachronistischen Beruf.

Ein zweites großes Thema des Romans ist die NS-Vergangenheit der Heide. Jannes lebt zwar in der Natur, aber auch in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen - und zum Rüstungskonzern Rheinmetall. 
Jannes’ angegriffene Psyche ist ein Sinnbild für die Schrecken der generationalen Traumata, die diese junge Generation (Jannes ist 1995 geboren) verarbeiten muss. “Oma, denkt er da, warum hast du mir diesen Kopf vererbt?” (S. 265) Ich will nicht zuviel verraten, aber vor allem dieser “düstere” Aspekt der Handlung wurde vom Autor auf beeindruckende und sehr ungewöhnliche Weise umgesetzt. Durch die fast schon naturalistische Erzählweise wird eine Atmosphäre erzeugt, die beklemmend und realistisch zugleich ist. Der Naturalismus Thielemanns vermischt sich mit großer Metaphorik und heraus kommt ein literarisches Kunstwerk. Der böse Wolf, der die Herden bedroht - ist er nur ein Sinnbild oder real? Nur durch die Lektüre werden es die Lesenden herausfinden - oder am Ende gar nicht?

Ein Roman, der trotz der schweren Thematik ungeahnte Wellen der Begeisterung in meinem Inneren geschlagen hat. Ich habe mich selbst komplett vergessen bei der Lektüre. War in Jannes’ Zimmer (wo ich den Staub unter dem Klebestreifen zur Kenntnis genommen habe), bei den Schnucken und Hunden, habe Heidekraut gerochen und den Sturm an Halloween gespürt, habe Schneeflocken im Januar leise rieseln sehen und die komischen Geräusche der Drohne vom Filmteam gehört, die Bedrohung durch den Wolf gesprüt. Und dann wollte ich unbedingt ein Hanuta mit “Herr der Ringe”-Stickern aus der Alufolie wickeln und mit Jannes auf der Parkbank sitzen, während sein Vater Anfang der 2000er Jahre in Jannes’ Erinnerung seine Begeisterung für die Werke von Tolkien und Peter Jackson auspackt.

Dieser Roman ist so viel mehr als die Summe seiner Teile, aber ich möchte trotzdem nochmal festhalten, was ich alles hier drin gefunden habe: Einen Coming-of-Age-Roman eines Angehörigen der frühen Generation Z (ich hoffe, das ist richtig), der - ungewöhnlich für das Genre - komplett ohne Liebesgeschichte und erotische Szenen auskommt. Wir wissen nicht mal etwas über die sexuelle Orientierung von Jannes. Darin eingewoben sind die Themen: Heimat, Herkunft und soziale Verantwortung, Familie und Freundschaft, NS-Vergangenheit und deren Aufarbeitung, regionale Literatur- und Wirtschaftsgeschichte, mentale Gesundheit, Landwirtschaft und deren Sonderform in einer besonderen Landschaft - Heideschäfertum als Kulturform und Touristenmagnet. Umweltschutz und Tierschutz. Und letztlich: Die Schönheit und Unbarmherzigkeit der Natur.

Stundenlang könnte ich noch über dieses wunderbare Buch reden und ich bin mir sicher, Literaturwissenschaftler*innen werden es in der Zukunft mit Sicherheit zum Gegenstand ihrer Arbeiten machen. Unbedingt lesenswert.

Herzlichen Dank an C.H.Beck für das Rezensionsexemplar!

Weitere Infos zum Buch gibt es hier

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