Wir Büchermenschen lieben Romane, Geschichten, die uns versprechen, uns für viele Stunden auf eine literarische Reise mitzunehmen, die nicht unsere ist, aber der wir vom Seitenrand aus staunend zusehen dürfen. Allzu oft übersehen wir dabei Gedichte. Dabei sind sie wie kaum eine andere literarische Ausdrucksform dazu in der Lage, unsere eigenen in den Tiefen unseres Selbst versteckten Gefühle ans Licht zu holen, sie für einen Moment zu kondensieren, um uns dann von diesem Gefühl befreit wieder in unsere jeweilige Realität zu entlassen. Lyrik ist in unserer schnelllebigen Zeit kein Massenphänomen, Gedichte zu lesen ist ein Einlassen auf die Langsamkeit der Wörter und ein Eintauchen in die Tiefe ihrer Bedeutung.
Die Gefühle, Emotionen und Zustände, die Anja Ernsberger in ihrem Gedichtband “Denn dort oben ist der Ausblick doch viel schöner” (mit Fotografien von Alex Lienerth) in wunderschöne, bildreiche Worte und Satzgebilde einschließt, sind solche, die das Menschsein ausmachen. Die Kapitel sind überschrieben mit: Verlangen, Erfüllung, Sehnsucht, Suche, Fernweh, Stille, Neuanfang. Innerhalb dieser Kapitel sind ihre lyrischen Texte von großer Intensität, Intimität, Offenheit (auch was die Form betrifft) und Verspieltheit geprägt. Jede neue Seite ist überraschend anders als die vorherige - für die Lesenden eine lyrische Entdeckungsreise, bei der die vielzitierte Achterbahn der Gefühle scheinbar in deinem Innersten rotiert und ihr Dasein als abgenutzte Metapher ad acta legt. Wer diese Gedichte liest, der empfindet am eigenen Leib das Verlangen und die Sehnsucht der Verliebten (ob es queeres Verlangen ist oder nicht bleibt mysteriös und ist auch ganz egal, denn Liebe ist immer Liebe), der sieht mit Melancholie das fehlende Teil im Zahn des Vaters, der nicht mehr ist und spürt den eigenen Verlusten nach. Und so viel mehr. Es gibt in diesem Band nicht nur Gedichte und Fotos, sondern auch Prosa-Miniaturen, also kleine Erzählstücke, die ein Feeling wie z.B. das Verliebtsein in fluffig-leichten erzählenden Sätzen mit Tiefgang festhalten.
Gedichte sind in der Lage, Gefühle - auch unter Umständen nur sehr flüchtige - in Sprache zu bannen. Sie sind poetische Partys, die einen Augenblick feiern, der so nie wiederkehren wird. Auch Fotos, so sagt man, seien Momentaufnahmen. Die berührenden Texte von Anja Ensberger und die ausdrucksstarken Fotos von Alex Lienerth in diesem Buch gehen eine Symbiose ein, die darauf bedacht ist, das Flüchtige, das Momentane festzuhalten. Ein Fest für die Sinne, das ist dieser Band wirklich.
Die Lektüre dieser Gedichte fühlt sich an wie ein traurig-schöner, aufregender, diffuser poetischer Traum, nach dessen wohlig-warmer Umarmung man noch nicht in die reale Welt zurückkehren möchte. Danke liebe Anja, dass ich diesen deinen Traum ein wenig mitträumen durfte. Ein Traumrest bleibt bei mir zurück, vielleicht für immer.
Biografische Notiz: Anja Ernsberger ist ehemalige Leistungssportlerin (Handball) und lebt heute als (bildende) Künstlerin im Schwarzwald. Auf ihrem Künstlerinnen-Kanal @paintingae89 könnt ihr ihre bildende und poetische Kunst erkunden.
[Unbeauftragte Werbung, herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar]
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