Mittwoch, 31. Januar 2024

"Shmutz" von Felicia Berliner

Wenn Literatur originell ist, hat sie bei mir schon mal einen Stein im Brett. Ich mag Romane, die Themen behandeln, über die ich so noch nie zuvor etwas in fiktionaler Form gelesen habe. Über das Thema Pornosucht habe ich definitiv noch nichts gelesen - auch nicht aus der naheliegenderen männlichen Perspektive - und auch bisher kein Buch, welches das chassidische Judentum so in den Fokus rückt wie “Shmutz” von Felicia Berliner, übersetzt von Hanna Hesse, erschienen im Atlantik Verlag.

Der Roman spielt im New York der frühen 2010er Jahre. Die Protagonistin Raizl ist 18 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern, ihrem Großvater und drei ihrer vier Geschwister in einer Wohnung in Brooklyn. Sie entstammt einer Familie chassidischer Juden, die eine ganz eigene mystifizierte und strenge Religiosität leben. Es ist schwierig hier durchzusteigen und ich war dankbar für das Glossar im Anhang, das die meisten jiddischen bzw. chassidischen Begriffe erklärt hat. Jedenfalls ist dieser Zweig des Judentums ultra konservativ, d.h. v.a. Frauen sind dem Mann untergeordnet, es wird nicht gern gesehen, wenn sie gebildet sind oder arbeiten gehen. Auch suchen die Eltern - oft mithilfe von Heiratsvermittler*innen - die geeigneten “matches” für ihre Kinder aus. Für uns in der heutigen Zeit eigentlich unvorstellbar. Der noch unverheirateten Raizl sind allerdings Geld verdienen und Bildung bis zu ihrer Hochzeit erlaubt. Das Geld, das sie als Buchhalterin im Unternehmen einer Rebbes(Rabbiner)-Witwe verdient, muss sie an die Familie abgeben, um die religiöse Ausbildung ihrer beiden älteren Brüder zu finanzieren. Die Eltern erlauben ihr widerwillig, für einige Semester das College zu besuchen, um ihre Kenntnisse in Buchhaltung zu vertiefen. Dafür benötigt sie einen Computer, der ihr nicht nur die Welt des unbegrenzt verfügbaren Wissens eröffnet, sondern auch die der Pornografie…

“Schmutz” ist durch die junge Protagonistin ein klassischer Coming-of-Age Roman mit einem ungewöhnlichen Thema. Das Thema Pornosucht wird hier enttabuisiert und bis ins kleinste Detail dargestellt, sowohl was die körperlichen Vorgänge in den Videos als auch die Masturbation der Protagonistin betrifft. Das weibliche Begehren wird in den Fokus gerückt.  Wenn man bedenkt, in welch konservativem Umfeld Raizl aufwächst, könnte der Kontrast größer nicht sein. Dieser Kontrast ist es, der den Roman so spannend und lesenswert macht. Auf die Schattenseiten der Internet-Pornographie wird im Buch ebenfalls eingegangen (Folter-SM-Pornos, Videos mit Minderjährigen). Die Botschaft: Das Internet kann traumatisieren, Pornos können eine falsche Vorstellung von Sexualität und Körperlichkeit vermitteln und sogar Gesetze, auch die der Moral, brechen.

Riazl ist hin- und hergerissen zwischen der schönen neuen Welt der Freiheit, die ihr sowohl das College als auch der PC ermöglichen und den strengen Regeln ihrer Religion. Obwohl Raizl sich z.B. während des Shabbes (Shabbats) nicht traut, ihren geliebten Computer hochzufahren, ist sie bei anderen heimlichen Akten der Rebellion gegen ihre chassidische Herkuft nicht so zimperlich. Als sich Raizl bei einem Foodtruck ganz selbstbewusst ein Schinkensandwich (oder war es ein Burger mit Speck?) kauft und dieses genüsslich verspeist, obwohl sie weiß dass es nicht koscher ist und als große Sünde gegen G'tt angesehen wird, habe ich stärker den Atem angehalten als bei der Beschreibung so manches Pornos im Roman. Auch der Kontakt mit nicht-chassidischen Mitstudent*innen wie der bisexuellen “Goth” Sam bleibt ihr Geheimnis. Raizl schält sich immer mehr aus ihrem Kokon, aber ihre Eltern, die von alldem nichts wissen dürfen, suchen nach wie vor nach einem geeigneten choßn (Bräutigam) für Ihre älteste Tochter. Raizl will aber keinen der Männer, weswegen ihre Eltern sie zu einer (nicht gläubigen jüdischen) Therapeutin schicken, der sie sich offenbaren kann. Auch was ihre Pornosucht angeht…

[Spoiler]

Was die Handlung angeht, so muss ich gestehen, hätte ich mir für Raizl eine andere Entwicklung der Dinge gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass sie aus dem strikten Korsett ihrer Religion gänzlich ausbricht und tatsächlich auf lange Sicht glücklich und frei leben kann. Stattdessen steht am Ende die unvermeidliche Hochzeit und mit ihr die Aufgabe des Computers, der für sie neben den Pornos auch ein Symbol der Freiheit war. Und wenn die Handlung schon so verlaufen musste, dann kommt das Ende des Romans für die Lesenden dem Ansehen eines Pornos gleich, bei dem keine Befriedigung erlangt werden konnte. Wir werden nämlich nicht erfahren, wie Raizl mit echtem Geschlechtsverkehr umgeht, also ob dieser der Realisierung ihrer Porno-Fantasien gleichkommt oder ob sie zu einem unglücklichen Sexleben in einer vermutlich lebenslangen Ehe verdammt ist. Wie Raizls Englisch-Profossor sagte: Endet das Stück mit einer Hochzeit, ist es eine Komödie und keine Tragödie. In welche Richtung sich Raizls Leben weiterentwickelt, erfahren wir leider nicht. Schade, ich werde sie vermissen. Viel Masl, das würde ich ihr wünschen, wenn sie nicht fiktional wäre.

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