Eskapismus, Fantasy (in diesem Fall historische), Märchenwelt: Ich habe es mal wieder richtig nötig gehabt, in magische Welten abzutauchen. “Midnight in Everwood” ist ein Buch voller weihnachtlicher und winterlicher Motive und obwohl Weihnachten schon wieder einige Wochen her ist, ist es momentan eiskalt und verschneit - also genau das richtige Feeling für dieses Wintermärchen.
“Midnight in Everwood” ist angelehnt an das Ballett “Der Nussknacker” von Tschaikowsky, das wiederum auf Alexandre Dumas’ französischer Adaption des Märchens “Nussknacker und Mausekönig” vom deutschen Romantiker E.T.A. Hoffmann basiert. Die Autorin M.A. Kuzniar hat diesem Stoff nun eine weitere Adaption hinzugefügt, die mir wirklich sehr gefallen hat. Aus dem Kind Marie hat sie die 20-jährige Marietta gemacht, die im Jahr 1906 in Nottingham lebt. Sie kommt aus einer wohlhabenden geadelten Familie, ihr Vater Theodore Stelle ist ein hohes Tier in der Jurisprudenz. Obwohl es Marietta und ihrem Bruder Frederick (im Original von Hoffmann Fritz) an nichts Materiellem fehlt (sie leben in einem luxuriösen Stadthaus in Nottingham, haben noch einen Landsitz und zahlreiche Bedienstete, sowie ein Automobil), sind die beiden erwachsenen Kinder der Familie Stelle unglücklich. Beide möchten nicht in die gesellschaftlichen Korsetts gezwungen werden, in die ihre Eltern sie zwingen möchten. Frederick studiert Jura und soll beruflich in die Fußstapfen seines Vaters treten und außerdem eine standesgemäße Ehe eingehen. Er aber möchte Maler nach Art der Impressionisten sein und mit seinem Lebenspartner Geoffrey zusammenleben. Marietta hingegen ist Ballerina und ihr Lebenstraum ist es, das Tanzen zu ihrem Beruf zu machen. Doch ihre Familie möchte, dass sie eine Ehe eingeht und stellt ihr ein Ultimatum: Am diesjährigen Weihnachtsball der Familie darf sie mit ihrem Ballettkurs zum letzten Mal tanzen, danach muss sie im neuen Jahr, an dessen Schwelle sie 21 wird, dem Ballett für immer abschwören. Als potenziellen Heiratskandidaten hat sich die Familie den mysteriösen Dr. Drosselmeier, Arzt und Spielzeugmacher, der vor Kurzem ins Nachbarhaus gezogen ist, ausgesucht. Auch Drosselmeier ist von Marietta fasziniert, doch weil sie sich gegen eine Verlobung widersetzt, befördert er die Ballerina in eine verzauberte Winterwelt, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt…
Bei Fantasy muss das “Worldbuilding” stimmen und das hat hier gepasst, schon allein weil sich der Zuckerpalast, wo Marietta gefangen gehalten wird, sehr an die “Konfitürenburg” von Tschaikowsky anlehnt und der Wald von Everwood an den verschneiten Tannenwald, in den Klara und der Nussknacker-Prinz gelangen. Die von der Autorin neu geschaffenen Figuren und Handlungselemente fügen sich harmonisch in die übernommenen Motive der Vorlagen ein. Zusammen entsteht eine ganz neue Geschichte, die über ihren eigenen Charme und eine bezaubernde Märchenhaftigkeit verfügt. Besonders die Beschreibung der Bälle und des verschneiten Waldes haben es mir angetan. Man stolpert als Leser*in mit Marietta in diese Traumwelt und gerät so wie sie in ihren Bann, obwohl sie eine grausame Kehrseite hat. Dennoch erlebt sie Freundschaft und die große Liebe, die natürlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Mir gefällt auch, dass der Roman im historischen Teil eine queere Beziehung - Frederick und Geoffrey - behandelt, im Fantasy-Teil gibt es eine positiv besetzte queere Nebenfigur. Feminismus wird als Topic ebenfalls groß geschrieben, mit Dellara und Pirlipata gibt es zwei starke Frauenfiguren, die für ihre Unabhängigkeit kämpfen (gespiegelt von Victoria und Harriet im historischen Teil). Ob Marietta am Ende ihren eigenen "Independence Day” feiern darf und in welcher Form, wird natürlich nicht verraten. Für alle, die gerne (historische) Fantasy und Märchen lesen, kann ich das Buch sehr empfehlen.
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