Und wieder habe ich ein Buch gelesen, von dem ich mir wünschen würde, ich könnte es noch einmal zum ersten Mal lesen. Nochmal jede berührende Aussage und jeden klugen Satz ganz neu aufsaugen und bei jedem Verweis, den ich erkenne und großartig finde, das Gefühl haben, eine gute Freundin hätte das Buch nur für mich geschrieben. “Nadia” von Can Mayaoglu ist so ein Buch.
"Am meisten Zukunft haben Menschen ohne Vergangenheit". Das hat der einzigartige Roger Willemsen einmal gesagt. (Dieses Zitat kam mir übrigens in den Sinn, bevor ich wusste, dass eines seiner Bücher - “Der Knacks” - im Text erwähnt wird. Creepy, oder?). Nadia, die Protagonistin des gleichnamigen Romans, hat vor allem eins: Vergangenheit, das Gestern, unwiederbringlich verlorene Momente, Erinnerungen und ihre Kunst, die sich aus dem Vergangenen speist. “Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, nichts ist ohne das andere möglich.” (S. 170). Dieser Satz ist eines der Gedankenkonstrukte von Nadia, die sie sich für ihre Kunst notiert hat.
Nadia Kartal ist Hamburgerin, Mitte dreißig und Künstlerin. Sie ist das mittlere Kind ihrer Familie und hat zwei Schwestern (Dilhan und Minoo), von denen die Jüngste, Dilhan, seit acht Jahren spurlos verschwunden ist. In den Jahren danach ging die Beziehung zu Nadias großer Liebe Rahel in die Brüche. Vor fünf Jahren hat Nadia Hamburg verlassen, um die ihrer Schwester Dilhan gewidmete Ausstellung STIP (“So this is Permanence”) in der ganzen Welt zu zeigen. Nun - im Februar 2019 (oder 2018, ich bin unsicher denn sie hat in Spanien die Auszeichnung “Konzeptkünstlerin des Jahres 2018” erhalten) - ist Nadia zurück in ihrer Heimatstadt, um die Ausstellung zu einem Ende zu bringen und damit beginnt die Handlung.
Für mich ist “Nadia” ein moderner Miniatur-”Ulysses” mit weiblicher Protagonistin. Ihre Rückkehr in die Heimatstadt wird zu einer Hamburg-Odyssee, die auf mich eine hypnotische und manchmal auch kathartische Wirkung hatte. Ihr Schiff und gleichzeitig sicherer Hafen ist das Taxi der sympathischen Kodderschnauze Cagney, die Nadia durch das Labyrinth ihrer eigenen Vergangenheit lotst. Cagney fungiert als Realitätsabgleich und zieht Nadia aus ihren Gedankensphären immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein genialer und origineller erzählerischer Schachzug. Hamburg wird gleichsam zur Topografie der Gefühlswelt der Protagonistin. Nadia dreht sich im Kreis und ist doch auf der Zielgeraden, wobei das Ziel darin liegt, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen und ihr gegenwärtiges Dasein in seiner veränderten Jetztheit zu akzeptieren. Mir fällt hier ein berühmtes Zitat von Novalis ein: “Wohin gehen wir? Immer nach Hause.” In diesem Sinne ist “Nadia” auch ein romantisches Buch.
Wer Intertextualität und literaturwissenschaftliche Bezüge liebt, wird auch “Nadia” lieben. Der Roman stellt seinen Figuren wie auch den Lesenden indirekt Fragen wie: Was ist dein Madeleine-Moment? (Proust, immer wieder der wunderbare Proust.) Welches Buch würdest du auf die hypothetische einsame Insel mitnehmen? (Ich würde das gleiche wie Nadia mitnehmen, denn auch ich habe einen Hamlet-Komplex, aber ich teile auch Dilhans Liebe für “the play that must not be named” und dessen Monologe; außerdem kann ich auch Rahels Wahl gut verstehen.) Bist du ein Bartleby? (Hier teile ich die Belesenheit der Autorin leider nicht und musste recherchieren, aber auch dies ist ein sehr interessanter literarischer Vergleich.) Das Buch ist also voller literarischer “Easter Eggs” (Der Journalist, der Nadia an eine Kafka-Figur erinnert z.B.), aber auch Musikliebhaber:innen kommen voll auf ihre Kosten. Der Roman gleicht einer musikalischen Schnitzeljagd. Im Text kommen immer wieder Ausschnitte aus Songs vor, es gibt für die Installation eine STIP-Playlist, die Nadia oft hört und jedem Kapitel ist eine Zeile aus einem Song vorangestellt worden.
Aber auch Filme und Serien werden von den Figuren konsumiert und im Text erwähnt. Und irgendwie bekomme ich manchmal auch so “Sex and the City”-Vibes, nur etwas queerer als es in der ursprünglichen Sendung der Fall war. Überhaupt muss noch erwähnt werden, dass auch die Figuren um Nadia herum eine eigene spannende Geschichte zu erzählen haben, jede davon könnte ausgearbeitet werden und einen eigenen Roman füllen. Aber zurück zu den Verweisen. Es werden im Buch sogar deutsche Humoristen zitiert, was ich toll finde (“Witzischkeit kennt keine Grenzen”, S. 228). Alles in allem ist “Nadia” also ein vielschichtiges kulturelles Palimpsest, ein Wimmelbuch für Intellektuelle, in das man sich fallen lassen kann wie ein Kind in ein richtiges Wimmelbuch von Ali Mitgutsch und staunen, immer wieder staunen ob der Klugheit seiner Autorin.
Zu Seite 168: Ich liebe solche Gedankenspiele, bei denen man darüber nachdenkt, wie Kleinigkeiten oder Zufälle das ganze Leben verändern können. Danke dafür.
“Nadia” ist so viel, aber vor allem auch eine Erzählung über Geschwisterbeziehungen, ein “Drei Schwestern” als Roman, ein Buch über Schwesternschaft. Der Zusammenhalt der jungen Kindheits-Schwestern, ihre Verschworenheit und auch die sich immer wieder klärenden Streit-Situationen, waren für mich als “Scheidungs-Einzelkind”, das weder geschwisterliche Innigkeit noch Zwistigkeit erleben durfte, bittersüß zu lesen. Das Ende des unzertrennlichen Trios ist Dilhans mysteriöses Verschwinden - und doch: “Tis better to have loved and lost than never to have loved at all.” Aber ich habe, wie Rahel, auch zwei Töchter und hoffe, sie werden später einmal so zusammenhalten wie Nadia und Minou. Ein wundervolles Ende und ihr seht schon, der Roman hat mich persönlich unheimlich angesprochen. Ich denke aber, dass in diesem Buch jede:r einen Mehrwert finden wird, der über das schöne Leseerlebnis hinausgeht und es vielleicht mit einem warmen Gefühl des geglückten Abschieds und mit einem hoffnungsvollen Seufzer zuschlägt, so wie ich es getan habe.
Danke für dieses Buch, auch an den Albino-Verlag. Nach “Adam im Paradies” von Rakel Haslund-Gjerrild ist dies schon das zweite grandiose Buch, das ich innerhalb kurzer Zeit aus diesem Verlag gelesen habe. Hier weiß ein Verlag wirklich, was hervorragende Literatur ist und beweist das immer wieder. Ich habe auch schon das nächste Buch im Auge. Danke auch für euren Mut zur Farbe, was das Pink des Hardcover-Einbands betrifft. Es kontrastiert wunderbar mit dem grauen Hamburger “Schietwetter”, das im Roman beschrieben wird und lässt uns Lesende mit dem wohligen Gefühl zurück, dass wir das Leben vielleicht wieder öfter durch die rosarote Brille betrachten dürfen, wenn wir den Mut dazu aufbringen.
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