Sonntag, 28. September 2025

"Kastanienallee" von Louise K.



"Kastanienallee", das ist eine bitterböse Gesellschaftssatire, situiert in der gediegenen Wiener Vorstadt, wo der Geldadel residiert und regiert. Der Verlag Kremayr und Scheriau nennt das Buch im Klappentext gar ein “voyeuristisches Lesevergnügen”. Kein Wunder, dass seine Autorin lieber anonym bleiben möchte und das mysteriöse Pseudonym Louise K. gewählt hat, ist sie doch eine “erfolgreiche österreichische Autorin”, wie man der abgedruckten Biografie entnehmen kann, die wahrscheinlich lieber nicht auf ihre wahren Gedanken bezüglich der österreichischen Bussi-Bussi-Gesellschaft (wie es bei uns in München heißt) angesprochen werden will.


“Kastanienallee”, das klingt wie eine Abwandlung von “Lindenstraße” und ein wenig so kommt einem die multiperspektivisch erzählte Handlung auch vor. Anders als in der Münchner-TV-Straße geht es im Roman von Louise K. aber eben nicht um Herrn/Frau/Them Ottonormalbürger*in, sondern eben um “die Oberschicht und alle, die sich gerne dazu zählen” (Klappentext). Das Figurenarsenal ist durch die Bank sehr überzeichnet, wie es sich für eine Satire auch irgendwie gehört. Leider musste ich immer wieder in der hilfreichen Personenbeschreibung am Ende nachschauen, um mich einigermaßen zwischen den Anwälten, Nachlassverwaltern, Erbschleicher*innen, Playboys, Lebemännern, Fabrikantinnnen, Antiquitätenhändlern, Geldwäschern, Hausfrauen, Hausmännern, Historikerinnen, Privatiers, Vermögensdieben, Psychologen und Psychiatern zu orientieren.


Als ich dieses Buch angefragt habe, bin ich einem Irrtum aufgesessen. Aufrund des Klappentextes und vor allem des in Jugendstilornamenten gehaltenen Covers dachte ich, es würde sich um einen historischen Roman handeln, der um die vorletzte Jahrhundertwende spielt. Als es dann aber mit der fiesen Trafikantenfamilie (Trafik = Kiosk) beginnt, merken wir schon, dass wir uns weit später in der Geschichte befinden. Da aber zunächst nicht von Mobiltelefonen und anderen zeitgenössischen Elementen die Rede war, sondern von Jogginganzügen, Klatschmagazinen und Tennisclubs gesprochen wird, dachte ich, wir befinden uns in den 1980er Jahren. Auch der Habitus der Figuren passte dazu. Irgendwann sagt dann aber einmal eine Figur, dass sie die Gletschermumie, die “vor einigen Jahren” gefunden wurde, so gruselig fand. Okay, dann vielleicht doch die mittleren 1990er Jahre (denn “Ötzi” wurde 1991 entdeckt)? Weit gefehlt, denn etwas später wird dann gesagt, eine Person “spiele am Handy” herum. Okay, also vielleicht Ende der 2000er, Anfang 2010er Jahre? Auch nicht, denn im letzten Drittel wird plötzlich von Mode-Influencerinnen auf Instagram gesprochen. Hm…also ich mag sowas leider gar nicht. Ein Roman muss wissen und auch darlegen können, wann er spielt. Wenn nicht mit konkreten Zeitangaben, dann muss das Setting eindeutig sein. Hier hätte man ruhig das Smartphone von Anfang an handlungsrelevant einsetzen können, dies ist aber nicht geschehen. 


Am Anfang und am Ende ist tatsächlich etwas Spannung und eine Art voyeuristisches Vergnügen beim Beobachten der Mauscheleien und Delikten der unsympathischen Neureichen entstanden. Zu schade, dass das Buch mit einem Cliffhanger endet und wir somit gezwungen sind, auf den nächsten Band zu warten, wenn wir wissen möchten, wie sich die Geschichte auflöst.


Herzlichen Dank an Buchcontact und Kremayr und Scheriau für das Rezensionsexemplar!



Sonntag, 21. September 2025

"Foucault in Kalifornien" von Simeon Wade


“Wir mögen Foucault als Systemanalytiker betrachten, als großen Philosophen, Historiker, Soziologen und Psychologen, er jedoch sah sich als Journalist. Er studierte die Vergangenheit nur, um die Gegenwart zu verstehen. [...] Seine Auffassung, dass wir sind, was gesagt wurde, bringt seinen Ansatz in Bezug auf Geschichte und Humanwissenschaften auf den Punkt.” (S. 23)


Studiert man Geisteswissenschaften, kommt man um Michel Foucault nicht herum. Oder besser gesagt: Ein Studium der Geisteswissenschaften durchzuziehen, ohne sich auch nur am Rande ein wenig mit den Gedanken von Foucault auseinanderzusetzen, halte ich für unmöglich. Der Autor des Buches “Foucault in Kalifornieren", Simeon Wade, hielt ihn gar für “den größten Denker unserer Zeit, wenn nicht aller Zeiten.” Deshalb lud der Historiker, der an einem College im kalifornischen Claremont unterrichtete, den großen Philosophen aus Paris ganz forsch ein, als dieser seinerseits im Frühjahr 1975 Vorlesungen im kalifornischen Berkeley gehalten hat. Der Rest ist Geschichte.


Simeon Wade und sein Partner Michael gingen mit Foucault auf einen Trip ins Death Valley, um sich dort LSD einzuwerfen und eine neue Erfahrung zu machen, eine Erweiterung ihres Bewusstseins zu erleben. Für Foucault auch eine Möglichkeit, all den Fans und schaulustigen Intellektuellen zu entfliehen, die sich im akademischen Umfeld stets um seine Person scharen. Natürlich ist auch Wade, der diese autobiografischen Aufzeichnungen verfasst hat, ein Jünger Foucaults und auch sein Partner findet ihn interessant. Die homoerotischen Spannungen zwischen den Parteien sind evident, aber ob wirklich etwas zwischen den Dreien gelaufen ist, erfahren wir nicht. Stattdessen dürfen wir uns Foucault laut eigener Aussage in Lederkluft vorstellen, schauen ihm beim Holzfällen zu und erfahren, wie er auf die dann wie aus dem Nichts auftauchenden schönen Männer aus dem Bekanntenkreis seiner beiden Reiseführer reagiert. Natürlich gibt es auch einiges zu seiner Philosophie in diesem Buch zu entdecken - aber das dürft ihr getrost selbst machen. Es würde zu weit führen.


Für Foucault-Fans ein Muss, für Foucault-Interessierte eine Empfehlung!


Mit einem Vorwort von Heather Dundas und einem Essay von Kai Sina. Aus dem Amerikanischen von Tino Hanekamp. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch


Montag, 15. September 2025

"Hundesohn" von Ozan Zakariya Keskinkılıç


Der “Hassan-Countdown”

Queere Texte sind - wenn man so will - mein täglich geistig Brot, mit dem türkischen Kulturraum hatte ich aber bislang wenig Berührungspunkte. “Hundesohn” ist daher für mich eine Mischung aus Vertrautem und Unbekanntem gewesen. 

Am Anfang des Textes habe ich gedacht: Aha, Filzläuse - die “Downsides of Casual Dating” und dann das Schwärmen von diesem Hassan aus der Türkei - Adana, dreitausend Kilometer von ihm entfernt - den der deutsch-türkische Ich-Erzähler scheinbar liebt. Etwas experimentell, viel Sprachspiel (Deutsch - Türkisch - Arabisch - Englisch - Französisch - Slang, etc etc), viel Religiosität, Multi- und Interkulturalität. Und natürlich: Berlin, Berlin. Ich habe mit einem soliden 4-Sterne-Buch gerechnet - am Anfang, weil es mich etwas verwirrt hat. Doch dann hat mich diese spröde, moderne, witzige, intime Geschichte dieses Mittzwanzigers, der wie so viele Mittzwanziger in der Literatur etwas “lost” wirkt, immer mehr gefesselt: das welpenhaft Verspielte, das hundeschnäuzig Kalte, das Kafkaeske, das Echte. Ich habe mit dem - aufgrund der Namensgleichheit mit dem Autor wahrscheinlich autofiktional inspirierten - Zakariya mitgefiebert. Ich habe den Hassan-Countdown” mitgezählt, den Orangen-und-Salz-Geruch seiner (Hassans) Achselhöhlen in mich aufgesogen. Ich bin mit Pari beim Mäcci gesessen und habe mir Pommes, Intellektuelles und Zotiges mit ihr reingezogen. Überhaupt Pari, sie ist wirklich toll *schwärm*. Jeder queere Mann und jede Frau braucht eine solche Freundin.

Ist dieses Buch eine kafkaeske Parabel, ein Gleichnis? Kafka ist gleichzeitig Leitmotiv und gebetsmühlenhafte Versicherung eines literarischen Erbes, das der Ich-Erzähler wie einen intertextuellen Regenschirm über sich und sein Buch spannt. So wie Kafkas Werke fordert auch “Hundesohn” eine mehrfache Lektüre geradezu heraus - bei jedem Lesen werden sich neue Bedeutungen erschließen, werden den Lesenden neue Dinge auffallen: Was bedeutet das Einverleiben von Hassan mittels seines Schamhaares? Sind die Sonnenblumenkerne, die Dede zwischen seinen Zähnen zermalmt, eine Allegorie auf die interkulturelle Sinnsuche des Protagonisten? Die vielen Gerichte, die Nene kocht, ein Sinnbild für die verschiedenen Religionen und der Hunger des Ich-Erzählers steht dafür, dass es nur einen Gott gibt? 

Ein Text, der viel Anlass zum Weiterdenken gibt und sowas ist immer feiernswert. Auf jeden Fall eine Leseempfehlung für alle, die leicht “verrückte”, verklausulierte Texte und Kafka mögen. Und für alle, die nicht prüde sind und nichts gegen Körperlichkeit haben. 

Herzlichen Dank an @vorablesen und Suhrkamp für das Rezensionsexemplar!

Donnerstag, 11. September 2025

"Lázár" von Nelio Biedermann


Man kann über “Lázár”, diesen klassisch anmutenden Roman, nicht sprechen, ohne auf das geringe Alter seines Autors hinzuweisen - er ist gerade mal 22. In diesem Alter diese Wortgewandtheit, diese Lebensweisheit zu besitzen, um solch einen generationenübergreifenden historischen Roman von besonderer Tragweite zu verfassen, ist ungewöhnlich. Nicht nur seine Schreibweise, die hier zutage tritt, vereint Biedermann mit so manchen klassischen Persönlichkeiten der deutschen Literatur wie Thomas Mann oder Theodor Fontane. Sein junges Alter lässt außerdem den Vergleich mit literarisch Frühvollendeten wie Georg Büchner oder Heinrich von Kleist zu. Nelio Biedermann ist ein literarisches Wunderkind - da sind sich viele einig.

Um was geht es nun in “Lázár”, einem Buch, das ohne viel Drumherum auskommt und schlicht und einfach "meiner Familie” gewidmet ist? Erzählerisch hangelt sich die auktoriale Erzählperspektive am Stammbaum der ungarischen (damals noch österreichisch-ungarischen) Familie von Lázár entlang. Beginnend am Anfang des 20. Jahrhunderts begleiten wir die Familie über drei Generationen hinweg durch den ersten und zweiten Weltkrieg bis ins kommunistische Ungarn und schließlich in die Freiheit der Schweiz. Die adelige Familie “verfällt” gewissermaßen wie Thomas Manns Buddenbrooks, da sie aufgrund der politischen Weltlage alles verliert, was ihr an Privileg, Status und Besitz lieb und teuer war. 

Die Handlung beginnt mit der Geburt des Stammhalters von Sándor und Mária, Baron und Baronin von Lazar, Lajos, in deren Waldschloss, dem ländlichen Familiensitz. Wir erfahren, dass Lajos unehelich gezeugt wurde - ein Kind der Liebe zwischen Mária und dem Stallknecht. Überhaupt versucht der Roman die intimen, von der Oberfläche des Anscheins weggewischten Geheimnisse dieser Familie ins Licht zu heben. Dazu gehören: Verrücktheit, Feigheit, aber eben auch sexuelle Begierden und Seitensprünge. In einer anderen Rezension habe ich gelesen, dass die vielen Sexszenen als enervierend und redundant (meine Worte) empfunden wurden. Ich sage: Diese sind genau das, was Biedermann von den Autor*innen der Klassik oder des Realismus, in deren Stil und Ton er sich erzählerisch bewegt, unterscheidet. Natürlich lesen wir zum Beispiel bei Goethe nicht direkt etwas von Geschlechtsteilen oder Selbstbefriedigung, der Akt wird bei Fontane allenfalls durch “…” angedeutet. Bei Biedermann im Jahr 2025 ist das Explizite möglich geworden und meiner Meinung nach auch gut und richtig so. Denn er erzählt niemals reißerisch von dem, was sich unter der Oberfläche des sittlichen Anscheins befindet. Er behandelt seine Figuren mit Respekt und Würde, auch dann, wenn sie nicht würdevoll agieren. Der Mensch besteht eben auch aus dem Menschlichen, dem Dunklen, seinen Begierden und Phantasien.

An einer Stelle wird die Perspektive metafiktional, dort lässt Biedermann eine seiner Figuren über die Funktion eines Schreibenden nachdenken: “Was tut ein Schriftsteller anderes, dachte Eva, als seinen Figuren das Recht auf Selbstbestimmung zu nehmen. Er legt ihnen Kriege in den Weg, schreibt ihnen Depressionen ins Gemüt oder entreißt ihnen ihre erste Liebe.” (S. 289) Ich empfehle den ganzen Absatz, denn er sagt “in a nutshell” alles aus, was man über Biedermanns Schreiben - und vielleicht sogar das Schreiben an sich - wissen muss.

“Lázár” ist ein sehr ernstes Buch, geschrieben in poetischer, aber auch realistisch-nüchterner Prosa, erzählt von einem sehr jungen Autor. Es ist sehr klassisch in seiner erzählerischen Anmutung und gleichzeitig zeitgenössich-modern in dem, was es erzählt. In jedem Fall eine literarische Entdeckung und völlig zurecht ein “Hype-Buch” der Saison.

Herzlichen Dank an den Rowohltverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar!



Samstag, 6. September 2025

"Der Tod in Venedig" von Thomas Mann


“Amor fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und der Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten.” (Thomas Mann: Der Tod in Venedig, 1911)

Sind wir nicht alle ein bisschen wie Gustav von Aschenbach? Suchen wir nicht alle den Sinn im Leben, das Schöne, das 3D-gewordene Glück? Und wenn wir dem Erhabenen dann begegnen, sind wir nicht total durch den Wind und wissen nicht, was wir denken und fühlen sollen. Sind überfordert von so viel Größe, so viel Schönheit? 

Der gesettelte Münchner Schriftsteller von Aschenbach ist einfach jeder Sterbliche und der junge hübsche polnische Junge Tadzio jedes Begehren. Venedig hingegen steht stellvertretend für das Universum, in dem uns alles passieren kann - Glück und Unglück, Extase und Verderben. In dem alles erstmal neutral ist und in dem wir die Zeichen nicht ignorieren und die uns von zwielichtigen Händlern angebotenen roten Früchte lieber nicht essen sollten. 

Das sind so meine Gedanken und Feststellungen, 25 Jahre nach der Erstlektüre dieser bildreichen Geschichte über den Tod in Venedig und über eine unerfüllte, einseitige Liebe, die keine sein darf. Außerdem habe ich gerade erst einen frischen Eindruck von der märchenhaften Lagunenstadt, für deren Besuch ich Thomas Manns Manns Novelle extra in den Rucksack gepackt habe (ein Rucksack kommt sogar ganz am Anfang darin vor, getragen von dem ersten Todesboten, den Aschenbach auf dem Münchner Friedhof trifft).

Jedes Mal, wenn ich wieder Thomas Mann lese, stelle ich fest, was für ein exzellenter Erzähler er ist. Ich bin verzaubert davon, wie er es schafft, eine Atmosphäre und ein Motivgeflecht zu spinnen, das mir unerreicht scheint. Thomas Mann wird nicht ohne Grund “Der Zauberer” genannt, denn er hat auch im Jahr 2025 nichts von seiner Erzählmagie eingebüßt. Auch heute habe ich mir wieder neue Sätze angestrichen, was gar nicht so einfach ist, denn mein Schulexemplar strotzt nur so vor Markierungen und Anmerkungen. Aber es ist schon faszinierend, dass ich heute scheinbar andere Aussagen wichtiger finde als damals (natürlich gibt es auch Überschneidungen).

Ich kann euch nur eins raten: Statt eure wertvolle Lebens- und Lesezeit gehypten Starautor*innen zu widmen, deren Werke nicht mal das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, macht doch einen Reread eines geliebten Klassikers. Ich werde es auch wieder öfter tun und gleichzeitig noch sorgfältiger auswählen, was ich zum ersten Mal lese.




Dienstag, 2. September 2025

"Drei Wochen mit Thomas Bernhard in Torremolinos" von Kuhn/Mahler/Mittermayer


Der todkranke Thomas Bernhard unternahm im November/Dezember 1989 eine Reise nach Torremolinos, Spanien. Weil sein Halbbruder und Leibarzt Peter Fabjan seine Arztpraxis nicht alleine lassen wollte, bat Bernhard seine Halbschwester Susanne Kuhn (alle drei haben dieselbe Mutter) ihn zu begleiten. Susanne Kuhn ist ausgebildete Frieseurin und war Maskenbildnerin, hat aber niemals selbst schriftstellerische Ambitionen gehegt. Dennoch wurde ihr bei einer Veranstaltung anlässlich des 90sten Geburtstags ihres Bruders nahegelegt, ihre Erinnerungen an ihn schriftlich festzuhalten und dieses Buch ist das Ergebnis davon.

Es besteht aus eben dem Reisebericht, sehr witzig illustriert von Nicolas Mahler, Kuhns eigenen Erinnerungen als Verschickungskind in Spanien und einem Interview mit dem Bernhard-Forscher Manfred Mittermayer.

Es sind Erinnerungsfragmente, kleine Episoden, Intermezzi, die hier aneinandergereiht werden. Von Susanne Kuhn nüchtern, “unliterarisch” und im Berichtsstil dargeboten. Sie ist halt ein ganz normaler Mensch, der zufällig mit einem berühmten Schriftsteller verwandt ist.

Susanne Kuhn wird quasi zu Bernhards gesundem “Ersatzkörper”. Sie soll für ihn Schuhe anprobieren und im Schuhladen wie auf einem Catwalk damit ‘modeln’, im eiskalten Pool (am besten auch im Meer) schwimmen, an einem Ausflug zur Alhambra teilnehmen. Und ihn natürlich pflegen, was sie aber gerne macht - also fast immer (am Anfang gibt es einen kurzen Streit, als sie vorzeitig abreisen möchte). Susanne Kuhn ist die perfekte Schriftsteller*innen-Halbschwester: unaufgeregt, geradezu pragmatisch und praktisch begegnet sie den Kapriziositäten ihres exzentrischen Halbbruders, der mit dem Tode ringt. Wir erfahren auch Intimes, wie zum Beispiel Bernhards Reaktion auf den schweldenden Konflikt mit seinem Verleger Siegfried Unseld. Wie beruhigend, dass selbst ein Weltliterat wie Bernhard dem Machtapparat Verlagswesen trotz seiner Genialität gewissermaßen ausgeliefert war.

Bernhard ist in seiner Literatur trotzig und sarkastisch angesichts des Unvermeidlichen. Und so ist es auch für die Lesenden und Bernhard-Fans herrlich, sich durch dieses Buch noch einmal am privaten Bernhardschen Humor, den er auch kurz vor seinem Ende nicht verloren hat, zu ergötzen: “Die Empfehlung, mich mit niemand anzufreunden, gab mir Thomas mit auf den Weg: Die Leute wird man dann nicht mehr los!” (S. 48) Empfehlung für Fans.


Mittwoch, 27. August 2025

"An Evening of Long Goodbyes" von Paul Murray


Seit ich “Der Stich der Biene” gelesen habe, ist Paul Murray sowas wie mein “Autoren-Maskottchen” - sprich: Ich liebe seinen Schreibstil und meine mir auch einiges davon abgeschaut und für mich adaptiert zu haben. Außerdem ist er einer der sympathischsten und nahbarsten Schriftsteller, die ich je kennenlernen durfte. Ich habe mir vorgenommen, alles von ihm zu lesen - bislang gibt es vier Romane. “An Evening of Long Goodbyes” ist sein Debütroman aus dem Jahr 2003. Wie immer bei Paul Murray ist der Plot sowohl für die Lachmuskeln als auch für die Tränendrüsen bestens zum Training geeignet - und für das Gehirn sowieso. Man muss allerdings einiges an Sitzfleisch mitbringen, um sich den klein geschriebenen 460-Seiten-Roman in der Ausgabe des Penguin-Verlags gefügig zu machen. Die deutsche Übersetzung gab es mal beim Kunstmann-Verlag, der Murray auf Deutsch verlegt. Momentan ist sie aber - glaube ich - vergriffen.

Der Morgenmäntel mit Troddeln tragende Protagonist des Romans, Charles, ist alles andere als ein durchschnittlicher Mitte-20-Jähriger. Er wirkt eher wie ein gut situierter Großvater, der ständig Longdrinks trinkt und dabei seinen Enkeln die Welt erklärt. Doch diese Welt wird erschüttert, als ihm langsam dämmert, dass das Vermögen, das sein verstorbener Vater ihm, seiner Schwester und seiner psychisch angeschlagenen Mutter hinterlassen hat, mehr als aufgebraucht ist. Dass das feudale Anwesen im Süden Dublins so nicht mehr zu halten ist. Und so stolpert Charles wie ein moderner Odysseus durch ein tragikomisches Schauspiel, in dem ein tragikomisches Schauspiel aufgeführt wird. Seine Schwester, Bel, ist nämlich Schauspielerin und will aus “Amaurot”, so heißt das Familienanwesen, am liebsten ein Theater machen. Doch Charles weiß nicht, wohin mit sich. Schließlich hat er bislang nur alte Hollywoodfilme, das Leben als Neureicher und ein wenig Theologie am Trinity College studiert, letzteres aber abgebrochen. 

Der Roman spielt in den sehr frühen 2000er Jahren, als Irland einen nie dagewesenen wirtschaftlichen Boom erlebte. Eine spannende Zeit, der Beginn des neuen Jahrtausends. Murray hat den Roman zeitnah am Geschehen geschrieben und so erkennen wir - wenn wir alt genug sind - vieles aus diesen Jahren wieder, die mittlerweile auch über 20 Jahre her und nostalgisch verblasst sind. Die Anfangszeit der Mobiltelefonie, also die Zeit, als Handys noch etwas exotisches und nicht für jedermann zu haben waren. Auch der Beruf des IT-lers war noch relativ frisch und die Jugoslawienkriege, die auch eine wichtige Rolle spielen, gerade erst zu Ende bzw. in den letzten Zügen. 

An vielen Stellen hat mich der Roman zum Lachen gebracht und an ebenso vielen nachdenklich gemacht. Paul Murray kann dieses Balancieren auf dem Tragikomischen wie kaum ein anderer. Außerdem ist er “schuld”, dass ich jetzt einen Crush auf Kate Winslet habe (die Titanic-Szene). Dennoch war ich dann auch irgendwie froh, als Charles am Ende (vielleicht) seine Bestimmung gefunden hat und ich das Buch zuklappen konnte. Zwei “Paul-Murrays” fehlen mir noch und ich bin sicher, dass er schon ein neues Kunstwerk mit der Hand schreibt, denn das macht er so. Was für ein cooler Typ! Trotzdem kann ich das Buch nur für eine gewisse Zielgruppe empfehlen - es ist halt doch aus der Zeit gefallen und das muss man mögen. 


Samstag, 23. August 2025

"Dopamin und Pseudoretten" von Varina Walenda


“Jemand hat mir mal gesagt, dass man die Erinnerung beim Erinnern jedes Mal verfälscht. Sie wird dann wie die Kopie einer Kopie immer verschwommener. Bis man sehr viel Fantasie braucht, um noch etwas zu erkennen.” (S. 7)

Die erste Hälfte von “Dopamin und Pseudoretten” hat richtig Spaß gemacht. Es geht um Janis, der auf dem Papier noch Jana heißt und mitten in der Transition steckt. Er ist 25, in einer Existenzkrise, hat keine Kohle und lebt als Exil-Schwabe in Berlin am Kotti (Kottbusser Tor) in einer WG mit zwei hetero-cis-Frauen. Sein erfolgreicher jüngerer Model-Bruder Marcel hat ihm einen Job als Assistent am Theater verschafft, wo er der Kostümbildnerin Irina zuarbeiten darf. Sie verlieben sich, aber die Beziehung entwickelt sich anders als erhofft.

Ich mag es, dass das Thema Transsein hier auf unverkrampfte und dennoch ernsthafte Weise besprochen wird. Außerdem fand ich die Kodderschnauze und unverblümte Art, die Jannis ausmachen, supi erfrischend. Allerdings muss ich sagen, dass das Ganze dann irgendwann gekippt ist - die Handlung sich mit einem mal zu konstruiert, zu schwer angefühlt hat. Ich habe dem Leichten, “Ungehobelten” der ersten Hälfte nachgetrauert. Es wird auch zunehmend “verworrener” - ich bin nicht mehr ganz durchgestiegen bei manchen Handlungssträngen, z.B. das mit Joachim Schmettau -  und die kurzen Kapitel fühlen sich trotzdem lang und etwas zäh an. Trotzdem hat mich das Ende dann emotional doch wieder abgeholt. Irgendwie schon ein kleiner Trip, dieses Buch und um Drogen und unterschiedliche Bewusstseinszustände geht es ja letztlich auch.

Ob die Roman-Klischee-Aussage “Irgendwo bellt ein Hund” (S. 64) bzw. 104 (“Irgendwo fängt ein Hund an zu bellen.”) - gegen Ende kläfft er dann auch nochmal -  ganz unironisch eingeworfen wurde oder schon Literatursatire ist, werde ich wohl nie erfahren.

Alles in allem interessant und mit Abstrichen lesenswert.

Donnerstag, 7. August 2025

"Öffnet sich der Himmel" von Seán Hewitt


Malerischer Coming-of-age-Roman, den man nie mehr vergisst

Wenn man richtig verliebt ist, mit ganzem Herzen und ganzer Seele, dann gibt es wohl kaum eine schlimmere Erkenntnis, einen größeren Schlag in das rosarote Brille tragende Gesicht, als den Satz: “Er/Sie/They steht einfach nicht auf dich.” Ich bin sicher, die allermeisten von uns haben ihn schon als perfide, vernichtende Stimme der Vernuft im sich grundlose Hoffnungen machenden, verknallten Hinterkopf gehört. Fast noch schlimmer ist es, wenn man einseitige, unglückliche Verliebtheit bei anderen beobachtet und zusehen muss, wie sie in ihr eigenes Elend rennen. Wenn sich diese einseitige Liebe in der Literatur zuträgt, dann befinden wir uns in der Rolle des Voyeurs, aber auch des verschämten Freundes - denn unglückliche Verliebtheit hat auch etwas schamvolles, unangenehmes an sich.

James, der sechzehnjährige Protagonist von “Öffnet sich der Himmel”, ist so ein unglücklich verliebtes Wesen, das man einfach nur in den Arm nehmen und vor der Welt beschützen möchte. Wir als Lesende lieben mit ihm den schönen, ein Jahr älteren Luke, der wegen seiner schwierigen Familienverhältnisse eine Zeit lang in James’ irischem Dorf Thornmere, bei dessen Onkel und Tante lebt. Wir interpretieren mit James die sanften Zeichen, die auf eine Gegenseitigkeit der Gefühle hindeuten könnte. Wir hoffen, wo es keine Hoffnung gibt, denn wir wissen von Anfang an: Luke wird James nicht zurücklieben und James wird ihm trotzdem ein Leben lang hinterhertrauern.

Schon vom ersten Satz an, hat mich dieses Buch in seinen Bann gezogen. Die Geschichte, die sich hier vor uns auffächert, ist auf die schönstmögliche Art und Weise erzählt worden, wie man Geschichten erzählen kann: blumig, bildreich, sanft, melancholisch, einfühlsam und gelegentlich sogar witzig. Seán Hewitt ist eigentlich Dichter und diese seine genuine Kunstform merkt man seinem ersten Roman auch an: hier wird im wahrsten Sinne des Wortes mit Worten gemalt. 

Dieser Roman hat mich wirklich sehr berührt und gefesselt und deshalb führt das, was ich jetzt sage, auch zu keinerlei Punktabzug und soll nicht als Kritik betrachtet werden. Aber ein Teil von mir möchte mehr wissen. Die Andeutungen, die James als Erwachsener aus der Retrospektive macht, lassen viele Fragen offen. Was ist aus James’ Eltern und seinem Bruder Eddie sowie dessen Krankheit geworden? Wie hat er seinen Mann kennengelernt, was war er für ein Typ und ist die Beziehung zu ihm wirklich wegen Luke auseinandergegangen? Tell me more! Und natürlich die brennendste Frage von allen: Hatten er und Luke danach keinen Kontakt mehr? Hat er von seinem Onkel und seiner Tante keine Infos über ihn erhalten können? Irgendwie macht es aber auch Sinn, dass dieser wundervolle Roman seine Lesenden in einem Zustand der Ungewissheit zurücklässt und sich so von ihnen verabschiedet wie Luke in der Morgendämmerung von James an der Türschwelle. Das Verlangen bleibt und wird niemals vergehen. 

Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Kleiner.

Herzlichen Dank an Suhrkamp und vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!

Sonntag, 3. August 2025

"Liebesheirat" von Monica Ali


“Liebesheirat”, ein Roman der britischen Autorin Monica Ali, klang so gut. Es sollte um eine interkulturelle Ehe in London gehen. Nämlich um die Ehe von Yasmin und Joe. Die indischstämmige Britin und der Engländer sind beide Ärzte, Ende 20 (oder Anfang 30 hab ich nicht mehr so genau auf dem Schirm) und lieben sich. Sie sind nicht das Problem, sondern die unterschiedlichen Ansichten der beiden Familien. Die Mutter von Joe, mit der er zusammenlebt, ist irgendwie Künstlerin, Uni-Dozentin und Feministin und hält dementsprechend natürlich nichts von Frauen, die sich einem Mann “unterordnen”. Das macht Yasmin auch nicht, aber irgendwie ihre Mutter, die Hausfrau ist und ihr Leben für die Familie “geopfert” hat. Naja, sie treffen dann zum ersten Mal aufeinander und statt eines Feuerwerks an Handlungselementen und brillanter Unterhaltung ob dieser skurrilen Situation, habe ich nur eins gefühlt: gähnende Langeweile. Es wird jedes kleinste Details lang, breit und ausführlich vor uns aufgefächert und ich habe nach 105 Seiten (erstmal) beschlossen, dass ich mir die ganzen 591 Seiten nicht geben will. 

Ich habe eigentlich sowas erwartet wie den Ben-Stiller-Film “Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich”, nur halt intellektueller und weniger Slapstick. Aber dass das so lame wird, war echt schade. Von den Charakteren fand ich einzig den Bruder, dessen Namen ich nicht mehr weiß, einigermaßen spannend. Weil er eben mit Mitte 20 noch zu Hause wohnt und nicht den beruflichen Ehrgeiz seines Vaters und seiner Schwester an den Tag legt. Er ist nicht perfekt und deswegen mag ich ihn. Vielleicht lese ich irgendwann nochmal weiter, um zu wissen, wie es mit ihm weitergeht. Yasmin und Jo interessieren mich leider herzlich wenig.

Übersetzt aus dem Englischen von Dorothee Merkel.


Mittwoch, 30. Juli 2025

Schreiben ist mühelos. Ein paar Gedanken zum Schreibprozess


Ich habe bei jemandem auf Instagram hier sinngemäß gelesen: Ich habe mir solche Mühe gegeben mit der Rezension und dann liken die Leute nur, weil ich ein ausgefallenes Bild dazu gepostet habe. Aufgrunddessen habe ich mich gefragt, ob ich mir jemals “Mühe” gegeben habe mit einer Rezension. Klar habe ich vielleicht schon 1-2 Sekunden länger über eine Formulierung nachgedacht oder sie im Nachhinein wieder gelöscht - aber Mühe gegeben? Nein. Ich schreibe es einfach so, wie es mir durch den Kopf geht. Gerade weil es mich keine Anstrengung kostet, macht mir das Rezensieren ja solchen Spaß. Ich würde es nicht machen, wenn es anstrengend wäre.

Der Gedanke hat mich weitergeführt: Hat mich das Schreiben meines Romans, also das literarische, “Mühe” gekostet? Man stellt sich immer Schriftsteller vor, die mit Disziplin und Arbeitsethos an ihre Texte gehen und so zu Erfolg kommen. Schreiben ist Arbeit, so der Tenor. Aber für mich? Zu keinem einzigen Zeitpunkt. Im Gegenteil: Die Worte sind durch mich durchgeflossen und ich habe mich oft gefühlt wie ein Medium, das meinem Ich-Erzähler und Protagonisten eine Stimme verleiht und seine Worte, die er mir durchgibt, zu Papier bringt. Als würde ich einen intellektuellen Download empfangen - einen Download vom Universum. 

Bis zu meinem Roman war ich nicht wirklich esoterisch veranlagt. So am Rande habe ich mich schon ein bisschen für Naturmystik, Wicca, etc. interessiert. Aber wirklich nur oberflächlich und wenn ich gerade den Edelsteinen und dem Räucherwerk auf den von mir frequentierten Mittelaltermärkten nicht widerstehen konnte. Mittlerweile beschäftige ich mich intensiver mit Meditation, dem “Universum”, früheren Leben und lerne das Kartenlegen - Tarot. Verrückt? Vielleicht, aber die Erfahrung dieses intensiven Schreibprozesses, der mich unglaublich erfüllt hat, hat mich für diese Themen empfänglich gemacht. Mich offen gemacht dafür, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, wie es in meinem liebsten literarischen Werk heißt.

Ich habe einfach keine andere “rationale” Erklärung für diese Mühelosigkeit des Schreibens gefunden und Antworten dafür gesucht. Warum funktioniert das Schreiben wie geschnitten Brot? “Vor allem, WIE du das geschrieben hast", meinte einer meiner Testleser, fände er bewundernswert. Ich selbst ja auch und so richtig kann ich es nicht erklären, außer, dass es vielleicht nicht ganz von meinem Gehirn allein kommt. So empfinde ich es zumindest. Und nein: KI war zu keinem Zeitpunkt im Spiel, wenn man mal von Google-Suchen absieht. 

Übrigens: Nicht nur das Schreiben sollte meiner Meinung nach im besten Falle mühelos passieren, sondern auch das Lesen. Wenn Lektüren anstrengend werden, dann breche ich sie ab. Es sei denn, es handelt sich um ein Rezensionsexemplar und da bin ich auch sehr wählerisch und vorsichtig geworden mittlerweile. Prüfe im Vorfeld genauer, ob es auch wirklich etwas für mich ist.

Also: Ich hoffe, es hat euch keine Mühe gemacht, diesen spontan zusammengezimmerten Text zu lesen und das trifft auch auf alle anderen zu, die aus meiner Feder geflossen sind und noch fließen werden. Eure Vicky


Donnerstag, 24. Juli 2025

"Onigiri" von Yuko Kuhn


Das apfelförmige Holzbrett und der “Opasessel”

Japan, seine Kultur und seine Menschen verbinde ich immer mit einer gewissen “no nonsense”-Einstellung. So nach dem Motto: “Don't make a fuss. It's only life and eventually - it will pass…” Also bloß kein Drama machen angesichts dem unvermeidlichen Spiel und Zyklus des Lebens. Gute Miene und sich keine Blöße geben, ein freundliches Lächeln aufsetzen - Augen zu und durch. Und ich muss sagen, der Roman “Onigiri” von Yuko Kuhn hat mir auch genau diese “vernünftige Lebenseinstellung”, die ich mit Japaner*innen assoziiere, gespiegelt. 

Yuko Kuhn hat einen Roman geschrieben, von dem ich mir vorstellen könnte, dass er autofiktional ist. Ihre Lebensgeschichte deckt sich in vielen Punkten mit der der Protagonistin Aki: Deutsch-Japanerin,1983 in München geboren und aufgewachsen, Studium in Passau und Südfrankreich, etc. Aber ich kann verstehen, dass sie das Ganze in ein fiktionales Konstrukt mit anderen Namen gehüllt hat, die eigene Identität nicht zu 100% preisgeben wollte, ein wenig im Verborgenen lassen.

Das Kernthema des Romans ist Akis Beziehung zu ihrer an Demenz erkrankten Mutter Keiko, mit der sie ein letztes Mal in deren Heimat Japan reisen möchte. Um dieses Ereignis herum entspinnt sich ein bunter Fächer von anachronisch durchgewürfelten Szenen, in denen Aki von sich selbst und ihrer Familie erzählt. In den alternierenden Prosahäppchen (Häppchen passend zum Titel) sind wir mal bei ihren intellektuellen deutschen Großeltern in Baden-Württemberg und tafeln mit dem Silberbesteck der Boomer-Wohlstands-Generation, sitzen auf dem “Opasessel”. Dann wieder bei ihrem psychisch kranken Vater, der seine Kinder - Aki hat noch einen älteren Bruder, Kenta - nur selten sieht, sich von seiner kleinen Familie entfremdet hat. Und dann geht es wieder um die uralte japanische Matriarchin Yasuko und deren Tochter Keiko, die sich in Deutschland zurechtgefunden hat und doch nie ganz angekommen ist. Schließlich ist da natürlich Aki selbst, die zwischen den Kulturen aufwächst und sich dabei selbst finden muss. 

Es geht um die winzigen Details, die ein Leben ausmachen. Um alles, was wir so ansammeln - in unseren Behausungen und in unseren Köpfen. Und um das, was uns wieder genommen wird, wenn wir im Alter wieder zu einem vergangenheits- und dingelosen Wesen werden. Der Zeitgeist der Generation der Xennials, der sowohl ich als auch die Autorin angehören, wurde meiner Meinung nach perfekt eingefangen. 

“Onigiri” ist das Lieblingsgericht der Ich-Erzählerin, das die Mutter ihr und ihrem Bruder immer gemacht und auf einem alten, apfelförmigen Brett serviert hat. Es ist quasi das Leitmotiv dieses Romans, in dem es um das Erinnern geht. Die Demenz von Akis Mutter hat es ihr unmöglich gemacht, für sich oder andere zu sorgen und somit gibt es auch kein von ihrer Mutter zubereitetes Onigiri mehr. Und jeder, der mal jemanden hatte, der ein Gericht auf eine besondere Weise zubereitet hat und das nicht mehr kann, weiß, welcher Schmerz alleine in dieser Tatsache steckt - ein Essen, das ganz besonders schöne Emotionen auslöst, in der Zubereitung durch diesen einen speziellen Menschen für immer verloren zu haben.

Herzlichen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar und die Zugaben!


Dienstag, 22. Juli 2025

"Die Geschichte des Klangs" von Ben Shattuck


Glück ist keine Geschichte

“Mein Großvater hat mal gesagt, dass Glück keine Geschichte ist. Darum gibt es über diese ersten Wochen nicht viel zu sagen.” 

Diese kraftvolle Aussage aus “Die Geschichte des Klangs” von Ben Shattuck hält uns die schmerzhafte, aber wichtige Erkenntnis vor Augen, dass Glück nicht literarisch ist und niemals sein kann. Nur der Verlust des Glücks ist erzählenswert, nur die Trauer um das Glück erschafft Kunst. Erfüllte Liebe ist nicht spannend für die Lesenden und deswegen hören die meisten positiv endenden, klassischen Lovestories auch dann auf, wenn die Liebenden sich bekommen haben. Nicht so bei David und Lionel, zwei Musikstudenten von der Ostküste der USA, die kurz vor dem ersten Weltkrieg - jung, schön und ungebunden - einander begegnen. David studiert Komposition und “sammelt” Lieder, David ist ein begabter Sänger und hat Synästhesie - er fühlt, riecht und schmeckt Farben. Sie werden ohne große Umschweife ein Paar. 

Lionel blickt im ersten Teil des kurzen, gerade mal 104 Seiten zählenden Romans als alter Mann in den USA der 1980er Jahre auf ihre Liebe zurück. Und diese Liebe ist eben nur unsterblich, weil sie keine Erfüllung in der Dauer erlebt hat. Sie ist nur 
solange “keine Geschichte”, so lange sie einen Sommer lang glücklich durch Maine reisen und Folksongs auf Wachswalzen aufnehmen. Sie lieben sich, essen Blaubeeren, bis sie blaue Zungen haben, sie schlafen unter freiem Himmel mit- und nebeneinander, sind einfach glücklich, bis das Leben sie kurz danach trennt und nie wieder zusammenführen wird. Nie wieder. Und dann ist es eben wieder der Verlust der Liebe, das Ende des Sommers und somit des Glücks, der eine Geschichte, der Literatur entstehen lässt.

Bei Amy ist es genau andersherum. Zu der jungen Frau, die im gleichen Amerika die Wachswalzen in ihrem neuen Haus mit Geschichte findet, war die Liebe gnädig. Sie hat ihren Henry, den Specht-Forscher, den attraktiven Ornithologen, bekommen, obwohl das Schicksal sie für kurze Zeit getrennt hat. Für sie gab es ein “danach”, ein Leben an der Seite des Mannes, den sie liebt. Aber ist dieses Leben trotz der ganzen Liebe auch ein erfülltes? Hat sie sich nicht selbst aufgegeben, um das Glück zu finden? 

Der Roman stellt die Frage, ob eine kurze große Liebe, auf die man mit Wehmut, Leidenschaft und Trauer zurückblicken kann, nicht mehr wert ist als alle Erfüllung. Und das macht Ben Shattuck wirklich großartig. Auf eine leise, eindringliche Art, die einen noch lange über diese Frage nachdenken lässt. 

Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren.

Herzlichen Dank an Hanser Literatur und vorablesen für das Rezensionsexemplar!


Freitag, 18. Juli 2025

Ein Gedicht an mein Buch, 18.7.2025


Überall Zeichen, ob in der großen Natur,
im Menschenwerk aus Stahl, im Äther
Eure Geschichte bin nicht ich
Sie gehört euch wie eure Seelen
Ich habe ihr nur meine Hand geliehen
meine Augen, meinen Kopf - das,
was man Verstand nennt

Morgen, übermorgen, eines Tages
wird sie leuchten im Blick derer
die sie zum Leben erwecken
mit ihrem Lächeln, ihren Tränen,
die Zwiesprache halten
mit den Worten

(Ein Gedicht an mein Buch, 18.7.2025)

🏳️‍🌈 

Mittwoch, 16. Juli 2025

"Die schlechte Gewohnheit" von Alana S. Portero


Stell dir vor, die erste Wesenheit, der du romantische Gefühle entgegenbringst, die du küssen und berühren möchtest, ist ein wunderschöner, frisch gestorbener junger Drogentoter, der vor deiner Haustür liegt. Du bist fünf Jahre alt, ein dicklicher träger Junge, in dem die Seele eines zarten Mädchens steckt. Du wächst bei einer fast armen, aber ansonsten sehr liebevollen Familie (der ältere Bruder ist dein Held und Halt) in einem Arbeiter(= Problem)viertel von Madrid auf, in dem Glanz und Gloria, die du heimlich vor dem Spiegel übst, so weit entfernt scheinen wie der Horizont. Du fühlst dich in der Gesellschaft von Frauen am wohlsten und stellst gleichzeitig fest, dass du auf Männer stehst. Du machst als Teenager erste sexuelle Erfahrungen mit einem ziemlich süßen Jungen, lernst die queere Welt ein bisschen besser kennen und eigentlich ist alles ganz nice, doch da ist etwas: Du bist kein Junge, kein Mann. Du bist eine Frau. Und außerdem ist da die Gesellschaft und die “reale” Welt um dich herum: mit ihren binären Vorstellungen, ihren limitierenden Glaubenssätzen, ihrer Engstirnigkeit und ihrer Gewaltbereitschaft. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen zum Mensch werden, der man ist, wie kann man aus dem Käfig ausbrechen, der um einen herum gezimmert wurde?

Alana S. Portero hat einen autofiktionalen Roman über ihre eigene Herkunft und das finden ihrer Identität geschrieben. Wie viel davon “wahr” ist weiß wohl nur sie selbst. Wir Lesende wissen nach der Lektüre jedenfalls ein kleines bisschen besser, wie schwierig es ist für eine Seele, die sich mit dem Gefängnis aus Fleisch, in das sie bei der Geburt hineingezwängt wurde, nicht identifizieren kann, in einer binären Welt zurechtzukommen. Der Text geht sowohl ans Herz (und das extrem) als auch an die Nieren (Triggerwarnung: Gewalt gegen Transmenschen und Homophobie). Ich habe selten einen so authentischen, einfühlsamen Roman gelesen wie diesen hier. 

Auch bezüglich seiner poetischen Sprache ist dieser Roman einer, der in Erinnerung bleibt im Einheitsbrei. Die Ich-Erzählerin baut sich einen mythologisch-märchenhaften Überbau, den sie ihrer Umwelt, ihrem Viertel und den Menschen, die es bewohnen, überstülpt. Es gibt Aphroditen, Circen, Nymphen und vieles mehr. Sie alle helfen ihr, die Welt um sie herum erträglicher zu machen. Die Ich-Erzählerin nennt queere Menschen “Bewohner unseres Waldes” und ich musste fast weinen, als ich das gelesen habe, denn es hat mich mitten ins Herz getroffen.

Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit dafür, dieses Buch gelesen zu haben. Es hat mich einfach erfüllt und während der Lektüre war ich komplett bei der Ich-Erzählerin. Ich habe endlich mal in Ansätzen das empfunden, was Transpersonen empfinden müssen. Diese Zerrissenheit, dieses Zwischen-den-Stühlen-sein-und-nie-ganz-den-richtigen-Platz-finden. Eine Lektüre, mir der ihr eure Zeit zu 100% nicht verschwendet - Ehrenwort. Ganz, ganz toll! Aus dem Spanischen übersetzt von Christiane Quandt.



Montag, 7. Juli 2025

"Content" von Elias Hirschl

Dieser Roman ist total gestört - im besten und positivsten Sinne. Er ist gaga, delulu, irre - was ihr wollt! Sowas muss einfach einem genialen Gehirn entsprungen sein, das kannst du dir nicht ausdenken. Ich habe auch manchmal gar nicht gecheckt, was hier eigentlich abgeht, vor allem als es um die Doppelgängerin ging, bin ich doch ziemlich im Dunkeln getappt - man muss quasi doppelt aufmerksam “hinschauen”. Und weil ich außerdem absolut keine Ahnung habe, wie ich hierzu eine “normale” Rezi schreiben soll, gibt es jetzt - Trommelwirbel / Premiere / Neu, neu, neu und wahrscheinlich einmalig - ein Rezi-Listicle. Denn in diesem Roman “Content” geht es vor allem um Listicles, also solche Online-Artikel, in denen Infos anhand von Listen übermittelt werden. Und um ihre Schreibenden auf einer von den Russen gesteuerten “Content-Farm” in einem gruseligen ehemaligen Industrieort mit dem Nickname “Staublunge”, die dort vor sich hin vegetieren und dabei langsam aber sicher in den Wahnsinn abdriften. Klingt mega, oder?

Also: 10 Gründe, warum du “Content” von Elias Hirschl aus dem Zsolnay-Verlag besser gestern als morgen gelesen haben solltest 

  1. weil es einfach anders krass reinhaut und wir alle hier und da einen frischen literarischen Wind im Einheitsbrei brauchen

  2. weil Karin einfach Badass ist, recht hat und es keine “letztgültige Wahrheit” gibt

  3. wegen der Perfidität von Plastikkateen, die dir vorgaukeln unsterblich und immer an deiner Seite zu sein 

  4. weil jeder, der mit Rote-Bete-Produkten Geld verdienen möchte, einen an der Waffel hat

  5. weil es die Meinung enthält, dass Musils “Mann ohne Eigenschaften” ein “beschissenes, anstrengenes Buch” ist. Ihr könnt mich ja vom Gegenteil überzeugen. Sorry RM, aber wer hat schon geschafft, es wirklich zu lesen und zu verstehen. Selbst “Ulysses” war um Weiten zugänglicher.

  6. weil “Content” den Finger auf die Wunde und damit auf das Dilemma unserer überdifferenzierten, überinformativen Welt der unendlichen Optionen legt. Wir wissen einfach zu viel und doch wieder fast nichts wirklich. Wer bin ich und wenn ja bin ich ein Bot?

  1. weil Elias Hirschl allein für die mit Semikolon aneinandergereihten Listicle-Ideen auf den Seiten 162-169 den Literatur-Nobelpreis hinterhergeschmissen bekommen müsste. Ich habe selten so gelacht und kann euch nur einen meiner vielen Favoriten zitieren: “die 14 dümmsten Wege, die Druckkosten eines Romans zu erhöhen;” (S. 164)

  2. weil ich Seite 162-169 immer wieder und wieder lesen werde, bis ich es auswendig mitzitieren kann

  3. weil queere Charaktere vorkommen, obwohl man es nicht erwartet

  4. (Spoiler) weil das Ende so schön traurig ist bzw. die Liste, in der man lernt, wie man ein glücklicheres Leben führt - wer würde das nicht wollen?

Danke an den Zsonlay-Verlag für den Gewinn!




Donnerstag, 3. Juli 2025

"Schwindel" von Hengameh Yaghoobifarah


In dem Roman “Schwindel” von Hengameh Yaghoobifarah geht es um eine Situation, die für alle Beteiligten unangenehmer nicht sein könnte: Vier Liebhaber_innen aus einem Vierecksverhältnis, die gemeinsam auf einem Hochhausdach “ausgesperrt” sind. Aua. Vor allem doof ist es für die, die mit allen drei anderen was am Laufen hat: Ava. Sie hatte was mit Delia (dey/demm), gehostet ihre Affäre Silvia (die sehr viel älter als alle anderen ist, die Anfang 30 sind) und ist verknallt in Robin, die eigentlich in einer heteronormativen Langzeitbeziehung mit ihrem Partner Ivo ist. Und nun erweist sich die Hölle mal wieder als “die anderen”, wie es bei Sartre so schön heißt. Mensch muss sich mit den Entitäten außerhalb des eigenen Selbst auseinandersetzen, egal wie schmerzhaft, schön und schrecklich es auch sein möge. 

Nicht nur vom Thema her, sondern auch erzählerisch ist das sehr clever gemacht: Die Teilnehmenden der temoporären Zwangsgemeinschaft lernen wir nach und nach als Individuen kennen - ihre Träume, ihre Traumata, ihr Begehren und ihre Wünsche für die Zukunft. Ein bunter Fächer an queeren Lebensentwürfen, die eines eint: sie sind Menschen und sie wollen glücklich sein.

Ich musste an vielen Stellen richtig schmunzeln, weil in diesem Roman so herrlich unverkrampft mit Klischees gespielt wird, ohne dass es jemals böse gemeint ist. Da sinniert eine Figur zum Beispiel über “Wanderlesben”, mit denen sie eben nicht in einer Beziehung sein möchte. Oder an anderer Stelle wirft eine Person der anderen an den Kopf: “Was bist du für eine Lesbe, wenn du keinen Karabinerhaken mit deinen Schlüsseln an deiner Jeans trägst?” (S. 49) Lol. Yaghoobifarah holt den Humor in die queere Schreibe zurück und ist gleichzeitig an vielen Stellen hoch literarisch, spielt mit Sprache und weiß einfach damit umzugehen. Auch wenn der Roman in der dritten Person erzählt wird, wird für jede Figur ein anderer “Sprech” verwendet. Um Delias Perspektive zu vermitteln, wurde beispielsweise Kleinschreibung benutzt, was ich sehr spannend finde. Wie anders kommt Sprache an, wenn sie gleich gemacht wird, wenn sie ohne Höhen und Tiefen fließt. Und bei Silvia kommt einem die Erzählweise fast konservativ, “bürgerlich” vor, obwohl sie alles andere ist als das, aber sie ist halt “die Alte”. Ava weißt nicht recht, was sie will, wer sie ist und auch das spiegelt sich in ihren sprunghaften Passagen wider.

Neben dem humorvollen Touch, dem ganz eigenen Slang und dem Spiel mit Wörtern und Sprache ist dem ganzen Roman noch ein philosophischer Überbau beigefügt, der das Ganze zu einem perfekten Kunstwerk macht. Auch die esoterischen Einsprengsel hier und da fand ich spannend. Yaghoobifarah versteht einfach von allem was.

Das Buch wurde mir übrigens von einer Buchhändlerin empfohlen, als ich “Auf allen Vieren” von Miranda July gekauft habe. Also ihr wisst schon: Kund_innen, die kauften, kauften auch… Kann ich so unterschreiben. Nur dass “Schwindel” meiner Meinung nach besser ist als der Roman von July. Aber maybe that’s just me, auf jeden Fall: lesen, wenn ihr mögt!


Freitag, 27. Juni 2025

"Strandgut" von Benjamin Myers


Der alte Mann und das britische Meer

Wenn ich Benjamin Myers lese oder an sein Werk denke, dann schiebt sich ein Wort vor allen anderen in mein Bewusstsein: zeitlos. Sein hierzulande wohl berühmtester, meist gelesener und besprochener Roman “Offene See” spielt in der Vergangenheit, sein aktuelles Buch “Strandgut” in der Gegenwart. Aber irgendwie ist das nebensächlich, denn der individuelle Erzählton des britischen Autors ist immer derselbe: poetisch, klassisch, auf den Punkt. Myers Erzählen wird die Zeiten überdauern, seinen Status als “moderner Klassiker” mit jedem neuen Werk untermauern. Neben dem besonderen Erzählton vor allem auch deshalb, weil er zeitlose Menschheitsthemen zum Gegenstand seiner Bücher macht, mit denen sich praktisch jeder und jede identifizieren kann: Liebe, Verlust/Tod/Trauer, Schicksal, Neuanfang bzw. “das Danach”.

Der Phönix, der aus den verbrannten Trümmern seines Lebens aufsteigt, ist in “Strandgut” (Originaltitel: “Rare Singles”) der Amerikaner Earlon “Bucky” Bronco. Der Name könnte klischeehafter nicht sein. Am Anfang erleben wir den ehemaligen Soulsänger und mittlerweile Ü-70-Jährigen in seiner Heimat Chicago, wo er uns als gebrochener Mann und gebeutelte Seele entgegen humpelt: Er holt sich in der Apotheke/Drogerie seine Opiate, denn ohne sie kann er nicht mehr leben - genauso wenig wie ohne seine Frau Maybellene, die allerdings vor fast einem Jahr an Krebs verstarb. Ein Süchtiger, einer, der seine Trauer betäubt. Hier wäre die Geschichte eigentlich nur noch aus der Retrospektive relevant, wenn da nicht die Zukunft wäre, die Bucky ruft: Er soll seine wenigen alten Hits, die er als Teenager eingesungen hat und mit denen er nichts verdient hat, bei einem Festival im englischen Küstenort Scarborough singen und bekommt alles bezahlt. Hauptsächlich geht es jetzt also darum, wie er eine Woche in England verbringt und dort u.a. auf komische Mahlzeiten, englische Gebräuche und die Ü-50-Jährige Dinah trifft, die ein Fan von ihm zu sein scheint. Kann das “Hier und Jetzt” Bucky nochmal für sich begeistern?

Benjamin Myers schafft es irgendwie immer mich mitzunehmen - egal welche Geschichte er erzählt. Seine Worte, seine lyrische Prosa machen selbst - setze ein unflätiges Wort, das Exkremente beschreibt - zu Gold. Wobei ich die Geschichte, den Plot, die etwas karge, manchmal spröde und oft herzerwärmend ruhige Handlung auf keinen Fall runtermachen möchte. Solche Geschichten haben ihren Platz, ihre Nische. Solche Geschichten berühren, auch wenn sie vielleicht nicht für jeden sind. “Strandgut” ist vielleicht nicht Benjamin Myers gefälligstes, schönstes Buch, aber es macht sein Gesamtwerk um eine wichtige Facette reicher. Der Roman atmet Musik und Leben, zeigt uns, dass - so negativ der Status auch sein möge - immer die Chance auf eine bessere Zukunft in unseren eigenen Händen liegt. Wir sind unseres Glückes Schmied - wir müssen nur die Augen aufmachen und das Eisen aufheben, das wir zu dem vielleicht schönsten Hufeisen schmieden werden, das wir jemals in der Hand gehalten haben. Empfehlenswert. Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence.

Herzlichen Dank an Dumont und Vorablesen.de für das Rezensionsexemplar!


Sonntag, 22. Juni 2025

"Mittsommer" von Lucy Foley


Happy Mittsommer! Kennt ihr das Phänomen aus schlechten Serien, wenn Charaktere sterben und dann in der nächsten Staffel wieder auftauchen, weil sie doch keinen besseren Job gefunden haben? Gut, in Büchern ist das jetzt nicht das Problem, aber wenn ihr darauf steht, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, seid ihr mit “Mittsommer” (Original: “The Midnight Feast”) von Lucy Foley gut bedient.

In diesem Thriller geht es um ein schickes Retreat/Öko-Hotel an der englischen Küste von Dorset, das die Londoner Unternehmerin Francesca Meadows aus dem Landsitz ihrer reichen Familie gemacht hat. Am Mittsommertag 2025 (also genau heute) möchte sie es eröffnen. Ihr attraktiver Ehemann Owen, der Architekt ist und das Retreat mitgestaltet hat, steht ihr dabei zur Seite und auch ihre Kristalle und Edelsteine, die sie vor Neidern und bösen Energien schützen sollen. Doch Francesca trägt selbst eine dunkle Vergangenheit mit sich rum. Was haben Michelle, ihre persönliche Assistentin, der 19-jährige Eddy vom heruntergekommenen Bauernhof aus der Nachbarschaft, der als Tellerwäscher angestellt wurde sowie die mysteriöse Bella damit zu tun, die eine der Hütten in der Nähe des Waldes bewohnt? Na alles natürlich, wie sollte es auch anders sein.

Was ich schlecht fand: Die Geschichte ist schon sehr übertrieben in ihrer Verbissenheit, für alles einen Plottwist zu konstruieren. I mean: come on…Aber so genau kann ich nicht darauf eingehen, wenn ihr es noch lesen wollt. Die Charaktere sind teilweise sehr klischeehaft gezeichnet (Francesca, ihre Brüder, Michelle) und handeln nicht wie echte Menschen, sondern so, als würden sie von einer KI gesteuert. Alles hat so einen Anstrich von unrealistischer Serie, Konstrukt, “Desperate Housewives”. Zudem hat das Buch seine Längen und mir hat öfter die Spannung gefehlt. Zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich das Interesse fast verloren, aber dann doch noch die Kurve gekriegt. Dass der Vollmond im Juni 2025 - also genau jetzt - nicht zu der Zeit stattfindet, in der er stattfinden sollte, finde ich nicht so prickelnd. Man kann auch mal einen kurzen Blick ins Internet bzw. den Mondkalender werfen oder fällt das unter künstlerische Freiheit? Wir werden es nie erfahren.

Was mir gefallen hat: Dass der Thriller mit ländlichem Aberglauben und der Verwurzelung der Bevölkerung mit den heidnischen Traditionen spielt. Das passt zu Mittsommer, das ja auch ein heidnisches Fest ist und mal ausnahmsweise nicht von Kirche für ihre Zwecke adaptiert wurde. Den ganzen Themenkomplex Esoterik/Heidentum fand ich sehr gut umgesetzt und in die Handlung verwoben. Die Atmosphäre wurde absolut greifbar, das perfekte Setting zwischen Wald und Küste hat dazu beigetragen. Man hat es gefühlt, wie es ist, dort zu sein. Reiche Leute, die so tun wollen, als seien sie natur- und erdverbunden. Hat mich überzeugt bzw. nicht lol. Auch der Einbau von Gegenwarts- und Vergangenheitshandlung war stimmig. Raffiniert ist ebenfalls, dass man bis fast zum Ende nicht erfährt, wer das Mordopfer ist, ja noch nicht mal sein Geschlecht.

Alles in allem eine Mischung aus: Ja, kann man lesen, ist ganz unterhaltsam, aber ist auch stellenweise echt verwirrend und wirkt sehr stark konstruiert. Man kann direkt zwischen den Zeilen spüren, wie sich die Autorin das Ganze ausgedacht hat. Und ob das bei einem fiktionalen Werk so sein soll, dass man den Spreadsheet des Schreibenden vor sich sieht, während man liest, das sei jetzt mal dahingestellt. 

Aus dem Englischen übersetzt von Ivana Marinović für den Penguin Verlag.


Montag, 16. Juni 2025

"Permafrost" von Eva Baltasar


“Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie?” hat sich Thomas Bernhard gefragt. Im besten Falle beides. In Lektüren und neuerdings auch in meinem eigenen Schreiben suche ich immer das Tragikomische. Es ist einfach das, was mich am meisten anspricht, was Literatur für mich menschlich und “echt” macht. 

Nicht nur ist Thomas Bernhard auch mit aus diesem Grund einer meiner Lieblingsautoren. Er verbindet das abgrundtief Traurige mit dem Humorvollen, den Schmerz mit dem Kalauer und dem beißenden Sarkasmus. Und wenn dann eine zeitgenössische Schreibende ihr Buch mit einem Zitat von ihm beginnt, dann ist das für mich allein schon ein Qualitätsnachweis und Vertrauensvorschuss, bevor ich das Buch überhaupt begonnen habe. Die katalanische Lyrikerin Eva Baltasar hat es getan. Ihren schmalen Roman “Permafrost”, der gleichzeitig ihr erstes Prosawerk ist, mit einem Thomas-Bernhard-Zitat eingeleitet: “To be born is to be unhappy, he said, and as long as wie live we reproduce this unhappiness.” Der Satz stammt aus dem Roman “Der Untergeher”, der in der Übersetzung witziger und nicht ganz akkurater Weise “The Loser” heißt. Da ich des Katalanischen nicht mächtig bin, habe ich Baltasars Buch in der englischen Übersetzung von Julia Sanches gelesen.

Um was geht es? Eine lesbische Ich-Erzählerin, gebürtig aus Barcelona, die edgy ist und wo es geht versucht, gegen gesellschaftliche Normen aufzubegehren, berichtet uns plain and simple aus ihrem Leben. Gescheiterte Lieben, das Lesbischsein, gescheiterte Berufe, Liebäugeln mit dem Selbstmord, die monatliche Qual der Endometriose, der gesellschaftliche und berufliche Erfolg der Schwester, die sie ja doch liebt. Es geht nicht so sehr um das “Was”, sondern vielmehr um das “Wie”. Um die Authentizität, mit der sie schreibt, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um Körperliches geht und um den Hauch von Witz und Ironie mit der sie das Thema “Suizid” mit ihren perfekt gewählten Worten einsprüht. Schwärzer als in “Permafrost” kann Humor fast nicht sein. Ich habe mir viele Sätze markiert in diesem Buch, einfach weil sie so schön und wahrhaftig sind. Zum Beispiel: “Like love, death catches the body. So let it be caught unawares.” (S. 13) oder “Sex distances me from death, though it doesn’t bring me closer to life.” (S. 91). Das Buch muss man selbst erlebt haben und kann es trotz der Kürze nicht eben so weglesen.

Das Buch ist der erste Band einer Trilogie - Permafrost, Boulder, Mammut -  in der es um drei lesbische Frauenleben geht. “Mammut” erscheint im Herbst in der Übersetzung bei Schöffling & Co.


Freitag, 6. Juni 2025

"The Darkest Night" von Victoria Hawthorne


Ich mag es, wenn Bücher schräger, überraschender, in irgendeiner Weise anders sind, als ich es von ihnen erwartet habe. Bei “The Darkest Night” von Victoria Hawthorne habe ich einen irgendwie feministischen Suspense-Mystery-Roman mit Hexen erwartet. Zwar habe ich den auch bekommen, aber zusätzlich einen eingeflochtenen queeren Histo. In der Verganenheitshandlung geht es nämlich um die Liebe zweier Frauen im ländlichen Schottland der 1910er Jahre. Die eine ist die Vorfahrin der Jetztzeit-Protagonistin Alisa Reid, die als lehrerin an einer Privatschule arbeitet und in ziemlicher Aufgebrachtheit (warum, erfahren wir erst nach und nach) von London in ihren schottischen Heimatort reist, um bei ihren Großeltern zu sein, die sie aufgezogen haben. Doch ihre demente Großmutter Moira ist verschwunden, ihr Großvater wird gerade mit einer Kopfwunde von einem Krankenwagen abgeholt. Was ist vorgefallen? Hat ihre Großmutter etwas damit zu tun?

Wir reisen also zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her in diesem Roman, was ich persönlich sehr gerne mag. Der generationenübergreifende Konflikt - hier ist es ein “Fluch”, denn die Vorfahrinnen von Alisa wurden als Hexen an einem Felsen über dem Meer verbrannt - der alle Frauen der Geschichte verbindet, ist jetzt nicht mein Lieblings-Motiv. Dafür wurde es einfach zu oft schon durchgekaut: Mehrere Frauen über Generationen verbindet ein Geheimnis: eigentlich ein bisschen gähn! Doch hier wurde es eben mit dem interessanten queeren Twist ein wenig aufgepeppt, dementsprechend mochte ich auch die Geschichte von Elspeth und Selina, die eine der ersten Ärztinnnen im ländlichen Schottland war, am liebsten. Alisa als Protagonistin ist für mich etwas zu pathetisch rübergekommen und sie hat mich als Person auch nicht wirklich gecatcht. Ihren homosexuellen Onkel Doug, der als vielbeschäftigter Vater in einer Regenbogenfamilie mit seinen schwierigen Kindern und der darunter leidenden Beziehung zu seinem Ehemann hadert, mochte ich dann wieder sehr gerne. Er kam sehr lebensecht und sympathisch rüber, weil er eben nicht perfekt ist und das auch zugibt. Er ist einer der wenigen “angenehmen” Männer in diesem Buch, fast der einzige sympathische Hetero-Mann ist Alisas Opa, der “Pop” genannt wird. Und dabei wären wir auch schon beim Hauptthema des Romans: Die Ungerechtigkeiten, die Männer Frauen angetan haben und noch immer antun. Ja, ein hartes Thema, aber it is what it is. Den Schluss fand ich schon etwas unglaubwürdig, aber alles in allem ein gut zu lesender, düsterer Roman aus den schottischen Highlands. Man kann die salzige Meerluft und die erdigen Berge förmlich riechen - der Schauplatz ist ein großer Pluspunkt. Meines Wissens nach noch nicht auf Deutsch übersetzt.


Donnerstag, 29. Mai 2025

"Das Parfum" von Patrick Süskind

Dies ist keine Rezension im klassischen Sinne, sondern ein Leseeindruck, quasi “Das Parfum” revisited, 40 Jahre später. Was soll man noch Neues sagen über einen Roman, der so lange erfolgreich auf dem Buchmarkt existiert und in über 50 Sprachen übersetzt wurde? Ein moderner Klassiker, der zigfach besprochen und auseinandergenommen wurde. Genau. Eine Frage aber kann ich euch in dem Zusammenhang beantworten: Warum habe ich ihn überhaupt erst jetzt zum ersten Mal gelesen? Weil ich ein Weichei war. Ich hatte Deutsch Leistungskurs und nur im Grundkurs haben sie “Das Parfum” gelesen. Jemand erzählte, dass das Ende so furchtbar eklig und grausam sei. Obwohl mich das Buch und die Story immer interessiert und angezogen haben, hatte ich es doch als Lektüre gemieden, eben wegen dem scheinbar grausigen Ende. Spoiler: Es ist gar nicht so schlimm wie befürchtet und ich konnte wunderbar mit diesem Ende leben. Es ist ein gutes, ein sinniges Ende.

Aber warum dann jetzt doch? Nun ja, ich habe ja gerade selbst einen Roman geschrieben und “Das Parfum” wird in meinem Buch intertextuell erwähnt. Manchmal machen literarische Figuren komische Sachen… Also musste/durfte ich auch ran, denn ich wollte nicht unwissender sein als mein Protagonist, der das Buch auch in der Schule gelesen hat. Und ja: Auch ich konnte mich dem Zauber dieser Geschichte, ihrer rohen und harten Originalität, nicht entziehen. Diese Düfte - eine Welt aus Düften! Was Süskind auf so einzigartige Weise gemacht hat - er hat einen der fünf Sinne zum Hauptthema seines Buches gemacht. Und dann hat er einen Antihelden geschaffen, der absolut abstoßend ist und gleichzeitig faszinierend und auf groteske Weise attraktiv. Diese beiden Punkte zusammengenommen machen die Einzigartigkeit von “Das Parfum” aus. Asexuelle Protagonist:innen führen ebenfalls ein Schattendasein in der Literatur. Grenouille ist im klassischen Sinne asexuell, wobei man auch sagen könnte, seine Nase ist sein Geschlechtsteil und seine Erotik nicht die Körperlichkeit, sondern der Geruch.

Was an “Das Parfum” ebenfalls besonders ist, ist die auktoriale Erzählstimme, die wie ein Relikt vergangener Zeiten anmutet und uns erfolgreich vorgaukelt, wir hätten es tatsächlich mit einem zeitgenössischen Roman aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts zu tun. Der Roman “brachte das Erzählen in die deutsche Literatur zurück”, sagt Christine Lötscher auf dem Klappentext.

Patrick Süskind ist einer der mysteriösesten Schreibenden unserer Gegenwart. Im heutigen Literaturbetrieb, in dem Autor:innen medial präsent sein und sich auch ein Stück weit selbst vermarkten müssen, haben es scheue, zurückgezogene Persönlichkeiten wie er eher schwer. Ein Segen, dass er seinen Weltbestseller in einer Zeit schrieb, in der das Werkzeug erster Wahl noch die Schreibmaschine war und Autor:innen es sich leisten konnten, exzentrisch zu sein, Preise abzulehnen und nicht öffentlich aufzutreten. Wer weiß, ob er das heute noch so hätte durchziehen können. Na gut, es gibt im deutschsprachigen Raum noch Walter Moers, der ebenfalls sehr zurückgezogen lebt, aber sonst? 

Ich bin froh, dass meine eigene Geschichte mich dazu inspiriert hat, endlich Grenouilles Geschichte zu lesen. Ich bereue es zu keinem Zeitpunkt und kann endlich sagen, dass ich kein Weichei mehr bin.




Sonntag, 13. April 2025

"Stammzellen" von Alina Lindermuth


Erschreckende und erfrischend andere Dystopie

Man stelle sich vor, es gäbe eine Welt, die von der Lebensrealität her genau so ist wie unsere, nur gäbe es auf dieser Welt eine Krankheit, die Menschen zu Bäumen macht. Sie plötzlich befällt und dann fangen sie schrittweise an, zu mutieren…Erst versteifen sich die Zehen, dann bildet sich immer mehr Rinde an den Beinen. Erst der Unterkörper und dann kassiert die Pflanze auch noch drn Oberkörper und vor allem das menschliche Bewusstsein ein, bis die Person nicht mehr ist und an ihrer Stelle ein ganz normaler, lebender Baum. Aber eben ein Baum. 

Mit diesem Gedankenspiel setzt sich die österreichische Autorin Alina Lindermuth in ihrem Roman “Stammzellen” auseinander. In ihrer Romanhandlung gibt es diese tückische Krankheit namens “Dendrose”, die eigentlich vor allem Menschen ab 50 befällt. Obwohl die Protagonistin des Romans, Ronja, noch wesentlich jünger ist, hat sie von Berufswegen mit der Dendrose zu tun. Sie verfolgt die aktuelle weltweite Forschung rund um die Krankheit und hat sogar einen Nebenjob als Dendro-Assistentin, wo sie Betroffene und deren Familien besucht. Schon gleich zu Beginn des Romans lernt sie den schönen Sprachwissenschaftler Elio kennen, der gerade an seiner Doktorarbeit über die Herkunft von Sprichwörtern forscht. Sie verlieben sich in dieser fragilen Welt, die von der neuen Krankheit und der Klimakrise fest umklammert wird. Und wie so oft in guter Literatur geht es also auch hier um die beiden ewigen Menschenheitsthemen-Bestseller Liebe und Tod, nur dass der Tod eben in ganz besonderer Form auftritt.

Lindermuth changiert erzählerisch immer wieder zwischen Ronjas Alltag als Ärztin am Krankenhaus (mich hat gewundert dass trotz Setting Österreich “Krankenhaus” und nicht ”Spital” gesagt wird) sowie ihrer Arbeit als Dendro-Assistentin und der Liebesgeschichte zwischen Elio und ihr. Letztere ist etwas spröde, aber ich denke, genau so wollte die Autorin sie auch darstellen. Liebe als Herausforderung, Liebe als Challenge. Von Anfang an liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft und so ganz kommen die beiden irgendwie auf keinen wirklich zu 100 Prozent grünen Zweig. 

Die Stärke dieses Romans ist es, Stimmungen einzufangen. Das Licht eines Nachmittags, die Schönheit der Natur in Zeit und Raum. Lindermuth lässt poetische Sprachbilder entstehen, sie kann schreiben. Ein Beispiel: “Der Herbst hat die Bäume und Sträucher fein säuberlich abgeräumt, hat die Blätter einzeln heruntergekämmt und die Äste stehen lassen wie erstarrte schwarze Finger, die nicht wissen zu scheinen, wozu sie in diesen Monaten überhaupt existieren.” (S. 138). Bei solchen Sprachbildern sage ich einfach: Jep, gekauft und für gut befunden. Es ist quasi Nature Writing meets Dystopie/Science Fiction meets Liebesroman. 

Das kleine Problemchen, das ich mit dem Roman hatte, liegt eher im Berich des Plots und der Figurenentwicklung. So richtig konnte ich den Finger nicht drauf legen, aber irgendetwas mutet trotz aller Schwere der Thematik künstlich, leicht oberflächlich und manchmal nicht ganz ausgereift an. Aber das mag auch nur mein rein subjektiver Eindruck sein. Lindermuth übrspringt erzählerisch immer wieder ganze Monate, die Kapitel sind nach ihnen benannt, also Mai, Dezember, Jänner, etc. Die Situation wird immer nur szenisch gestreift und wir sehen die feinen Nuancen, die Zwischentöne nicht. Es werden quasi nur die Jahresringe der Beziehung zwischen Elio und Ronja präsentiert, aber das Holz dazwischen bleibt blass. Mir hat also die Verdichtung etwas gefehlt im Sinne von Feinheiten. 

Ansonsten ist die Idee natürlich grandios und mal eine Nature-Dystopie, die erfrischend und erschreckend anders zugleich ist. Wenn man das Buch zuschlägt ist man definitiv froh in einer Welt zu leben in der es keine Krankheit namens Dendrose gibt. Ein gutes Buch, mit sehr schöner, zur Thematik passenden Aufmachung, das ich für alle Liebhaber solcher Bücher auf jeden Fall empfehlen kann.

Herzlichen Dank an die Agentur Buchcontact sowie den Verlag Kremayr & Scheriau für das Rezensionsexemplar!


Donnerstag, 3. April 2025

"Wenn Ende gut, dann alles" von Volker Klüpfel


“Ob ich ein paar Seiten schreiben sollte? Doch schon als ich den Computer aufgeklappt hatte, wusste ich, dass ich mich heute vergeblich abmühen würde. Meine Gedanken waren ganz woanders, und wenn ich etwas übers Schreiben wusste, dann, dass man es nicht erzwingen konnte. Durfte!” (Volker Klüpfel: Wenn Ende gut, dann alles, S. 120)

Das Motiv des Ermittler-Duos ist seit Sherlock Holmes und Dr. Watson aus der Kriminalliteratur nicht mehr wegzudenken. Meistens sind die beiden Ermittelnden komplette Gegensätze und liefern sich oft zur Belustigung der Lesenden einen Schlagabtausch, manchmal gibt es auch eine erotische Anziehung zwischen ihnen. In “Wenn Ende gut, dann alles”, dem ersten Roman-Soloprojekt von Volker Klüpfel, des einen Teils des versierten Krimi-Duos Klüpfel und Kobr, geht es genau um ein solches ungleiches Ermittlenden-Duo, bei dem der Humor-Faktor ganz klar im Vordergrund steht.

Der erfolglose Thriller-Autor Thomas - Tommi - Mann (ja, hier wird nicht tief gestapelt!) lebt im abgelegten Wohnwagen seines Vaters, der jetzt in einer Seniorenresidenz residiert. Geerbt hat er außer dem baufälligen Haus auf zwei Rädern auch noch dessen ukrainische Putzkraft Svetlana. Während Tommi verzweifelt versucht, mit dem Schreiben voranzukommen, macht Svetlana bei ihm sauber und mischt sich in sein Leben und Schreiben, seine Lektüre-Gewohnheiten, seine Ernährung und die Nicht-Beziehung zu seiner On-off-Freundin Michelle ein. Dann läuft ihnen ein Mädchen mit Down-Syndrom über den Weg, was nicht spricht und niemanden zu haben scheint. Daraus wird sozusagen der erste Fall des Ermittlerduos Tommi und Svetlana, den sie natürlich am Ende erfolgreich aufgeklärt haben werden.

Was ich wirklich richtig nice und originell fand an dem Roman, ist die Tatsache, dass der Protagonist und Ich-Erzähler Tommi ein struggelnder Schriftsteller ist und wir seinen Schreibfortschritt - oder besser gesagt: Rückschritt - quasi beobachten können. In einem Roman von einem Schriftsteller über einen Schriftsteller ist immer auch ein ganzes Stück Metaebene als tragende Wand eingezogen. Der Bestsellerautor Volker Klüpfel versetzt sich mit Tommi in jemanden hinein, der noch kein Buch zu Ende gebracht hat, dessen großer Traum es aber dennoch ist, Schriftsteller zu werden.

Was mir nicht so gefallen hat, war der Fall an sich, der eigentlich furchtbar tragisch ist, aber sehr auf die Humorebene gezogen wurde, weil es sich bei diesem Roman eben um einen Cosy Crime handelt. Auch wurde die Sache mit dem einsamen Kind im Speziellen dann viel zu gefällig durch eine Deus-Ex-Machina-Situation aufgelöst. 

Dass sehr viel Text aus dem gebrochenen Deutsch von Svetlana generiert wurde, fand ich ebenfalls wenig zeitgemäß. Den naiv-klugen Kluftinger-Humor habe ich dennoch vermisst und nur an ganz wenigen, Tommi selbst betreffenden Stellen, aufblitzen sehen.

Ich hoffe, dass mir der nächste Band vom Inhaltlichen etwas mehr zusagen wird. Alles in allem habe ich aber besonders Tommi ein wenig ins Herz geschlossen und bin gespannt, was er und Svetlana noch so alles ermitteln werden.

Herzlichen Dank an die Agentur ehrlich&anders für das Rezensionsexemplar und die tolle Camping-Tasse sowie Penguin Randomhouse Deutschland.

Freitag, 14. März 2025

"Hier draußen" von Martina Behm


Mental Load und Schweinedung

“Hier draußen” ist ein moderner Dorfroman, der in einer kleinen norddeutschen Ortschaft der Gegenwart spielt. Wir haben aber auch immer mal wieder Einschübe, Rückblenden, die die Situation auf der Handlungsebene mit Hintergrundinformationen unterfüttern. Diese Struktur hat mir sehr gefallen und war hier auch hilfreich, um das Gelesene besser zu verstehen.

Wir begegen in diesem Buch mehreren Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft verdienen. Die “alteingessenen” Dörfler sind alle um die 60 Jahre alt und entsprechend eingefahren, haben Gesundheits-, Finanz- und/oder Eheprobleme und viel zu viel Arbeit, denn die Kinder übernehmen in der Regel nicht mehr einfach so den Hof der Eltern, sondern ziehen in die Stadt oder in andere Bundesländer, studieren, leben ihr eigenes Leben. Ein umgekehrtes Phänomen ist der Zuzug gut situierter und gut ausgebildeter jüngerer Leute um die 30/40, die “hinaus aufs Land” wollen. So wie Lara und Ingo, zusammen mit ihren schulpflichtigen Kindern Erin und Erik. Sie haben sich einen “Resthof” gekauft - aber werden sie, die Städter aus Hamburg - er Manager bei einem Start-Up-Unternehmen, sie freiberufliche Grafikerin - wirklich den Rest ihres Lebens in diesem Kaff Fehrdorf verbringen? Dann gibt es noch Jutta und Armin, die “Öko-Hippies”, die vor 30 Jahren aus der Stadt ins Dorf gezogen sind, um eine WG zu gründen. Sie sind übriggeblieben, nicht wirklich zusammen, aber gelegentlich doch. Auch sie werden im Laufe der Handlung eine wichtige Rolle spielen.

Aber die Handlung, was ist das hier überhaupt? Das ist ein wenig das Problem des Romans. Der rote Faden, um den sich die Erzählung lose windet, ist eigentlich, dass Ingo eines Abends, als er von Hamburg, wo er nach wie vor arbeitet, nach Hause pendelt, eine weiße Hirschkuh überfährt. Der ortsansässige Jäger und Schweinebauer Uwe, ein ewiger Junggeselle, erschießt mit Ingo zusammen das leidende Tier. Dumm nur, dass eine Prophezeiung sagt, wer eine weiße Hirschkuh tötet, wird innerhalb eines Jahres sterben. Das ist an sich schon sehr spannend, wird aber im Laufe des Plots oft aus den Augen verloren. Es geht vielmehr darum, die Dörfler und ihre Probleme detailliert zu beschreiben.

Und das ist tatsächlich die Stärke des Romans. Besonders die Situation der ländlich lebenden Frauen hat Martina Behm hervorragend eingefangen. Anhand der jüngeren Städterin Lara beschreibt sie auf realistische Weise die Struggles einer arbeitenden Mutter, die sich für die Kinder, ihren Mann, das Haus, den Hund und und und den Allerwertesten aufreißt. Die als Selbständige weiterkommen möchte und der nur Steine in den Weg gelegt werden. Das Mental Load, oh dieses verdammte Mental Load. Die unsichtbaren Tasks, die Mütter immer und ständig auf dem Schirm haben müssen und die kein anderer sieht oder macht. Auch Tove Wirtz, die um die 60 ist, hat ihr Leben für andere gelebt: den undankbaren, cholerischen Mann, die beiden Söhne, die jetzt längst woanders wohnen, die Dorfgemeinschaft, den Hof. Wird auch sie nochmal ihr Glück finden? Uwe ist der unerwartete Sympathieträger des Romans. Seine Geschichte ist besonders herzzerreißend.

Für meinen Geschmack wurde die Handlung etwas zu sehr in die Länge gezogen. Man hätte hier sehr gut kürzen können, vor allem was die detaillierten Beschreibungen des Zubereitens von Nahrung, etc., angeht. Manches hätte ich genauer wissen wollen, anderes war mir hingegen zu ausführlich ausgearbeitet.

Alles in allem aber ein sehr unterhaltsamer, starker Dorfroman, den ich euch empfehlen kann.

Herzlichen Dank an dtv und vorablesen für das Rezensionsexemplar!

Dienstag, 25. Februar 2025

In eigener Sache: Schreibpause mit Unterbrechungen


Ich habe folgenden Beitrag gestern auf Instagram geposted, er gilt aber natürlich auch für die Leser*innen meines Blogs. Vielen Dank für euer Verständnis und eure Treue!

Hallo ihr Lieben!

Wie manche von euch vielleicht aus der Story wissen, schreibe ich gerade selbst an meinem ersten Roman (ich kann es noch gar nicht wirklich glauben, es ist so ein unbeschreiblich tolles Gefühl! 🥰). Um Nachfragen vorzubeugen: Es weiß außer mir noch keiner, um was es genau geht 😉. Gut Ding will Weile haben und ich will auch nichts “verschreien”, wie man bei uns in Bayern sagt. Ich bin schon sehr gut vorangekommen, die Worte fließen nur so aus mir heraus. Ich muss tatsächlich gar nicht so viel aktiv machen, meine Charaktere machen das irgendwie ganz von allein... (auch wenn sie manchmal seltsame Dinge tun 😅).

Und ihr wisst ja, wie es ist, wenn man in ein Projekt viel Zeit und Energie investiert, dann fehlt es an anderen Ecken und Enden. Momentan muss ich das Lesen von anderen Geschichten leider ein wenig vernachlässigen, um meine eigene voranzutreiben und damit leider auch den Blog und #Bookstagram. Ich bin zwar nach wie vor bei @vorablesen aktiv und poste auch dementsprechend meine Rezensionen hier, aber es wird in den nächsten Wochen eher ruhiger sein auf diesem Kanal. Ich hoffe, ihr bleibt mir trotzdem gewogen. Wenn ich mit meinem Buch fertig bin (ich will noch gar nicht dran denken 😢), wird bestimmt alles wie zuvor sein. Oder auch nicht?

In diesem Sinne macht es gut, wir sehen und hören uns! Eure Vicky