Ich liebe Bücher und Filme die im frühen 20. Jahrhundert in
englischen Landhäusern spielen. So gehören „Was vom Tage übrigblieb“ von Kazuo
Ishiguro und „Gosford Park“ („The Shooting Party“) von Isabel Colegate zu
meinen Lieblingslektüren bzw. Filmen. Auch dieses Buch erfüllte das von mir so
geliebte Settingversprechen: wir befinden uns in „Der ungeladene Gast“ auf dem
englischen Landsitz Sterne, bewohnt von der Familie Torrington-Swift im Jahr
1912. Englische Landhäuser haben einfach ein einzigartiges Flair und das weiß
sich die Autorin Sadie Jones zunutze zu machen indem sie eine faszinierend
harmonische und eindringliche Atmosphäre heraufbeschwört, die den Leser sofort in
den Bann zieht.
Der Tag an dem ein Großteil der Handlung spielt ist der 30.
April 1912, Emerald Torringtons 20. Geburtstag. Zusammen mit ihrem jüngeren
Bruder Clovis und der jungen Nachzüglerin Imogen, genannt „Smudge“ ist sie das
dritte und älteste Kind von Charlotte Swift und ihrem verstorbenen Mann Horace
Torrington. Zu Beginn des Romans reist ihr neuer Ehemann und ungeliebter
Stiefvater, der Jurist Edward Swift nach Manchester, um den finanziellen Ruin seiner
angeheirateten Familie und den Verlust des geliebten Anwesens zu vereiteln. Auch
Emerald könnte ihren Teil zur Rettung des Familienvermögens beitragen wenn sie
den zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladenen Millionär John Buchanan heiraten
würde. Und dann ist dann auch noch das Geschwisterpaar Patience und Ernest
Sutton, die Kinder einer befreundeten Familie, die etwa im gleichen Alter wie
Emerald und Clovis und der Erinnerung nach so gar nicht nach deren Geschmack
sind. Zusammen mit den Hausangestellten (Myrtle und Florence) erhält die kleine
Gesellschaft am Abend des Festtages die Nachricht von einem Zugunglück in der
Nähe. Die verunglückten Passagiere stehen plötzlich vor der Tür und werden
vorerst im Studierzimmer untergebracht. Wenige Zeit später klopft es und die
Nachzüglerin Smudge öffnet dem Nachzügler Charlie Traversham-Breechers die Tür,
der mit seiner besonderen Art und seinem exklusiven Auftreten schnell aus der
Masse der Verunglückten heraussticht…
An der Handlung des Romans fasziniert mich die gelungene
Verbindung von der Darstellung einer Familienrealität in der gehobenen
englischen Mittelschicht des frühen 20. Jahrhunderts mit dem Bizarren und
Außergewöhnlichen, das plötzlich seinen Einzug hält und die gesellschaftliche
Ordnung unterminiert. Aufgrund dieser Symbolik und der Erzählstruktur kann man
den Roman fast schon als klassisch bezeichnen, man merkt ihm seine moderne
Autorin jedenfalls kaum an.
Auch sonst setzt Sadie Jones ganz auf Metaphorik und Ironie.
Wie das ebenfalls in der Handlung präsente Kätzchen, das in seiner Kiste auf
seine Befreiung wartet ist lange Zeit unklar, was es denn genau mit dem
Vitalitätsgrad der Passagiere auf sich hat: Schrödingers ungeladene Gäste eben,
wenn man den Vergleich zum Theorem des berühmten Physikers ziehen mag. Auch
durch das andere, das unrenovierte Zweithaus auf dem Anwesen wird die
Holzhammermetaphorik ausgepackt. Die Verfallssymbolik deutet auch schon auf den
lauernden ersten Weltkrieg hin: nichts wird mehr so sein wie zuvor.
Die Charakterzeichnung ist auch eine besondere Stärke von
Sadie Jones, vor allem wenn ich an die kleine Smudge denke, die mit ihren
exzentrischen Handlungen und ihrem liebenswerten Außenseitertum fast zur
heimlichen Hauptfigur wird.
Für den spannungsverwöhnten Leser hält der Plot allerlei
Überraschungen bereit, obwohl man sich das ein oder andere durch zahlreiche
Hinweise schon vorher zusammenreimen kann.
Interessant ist dass der titelgebende „ungeladene Gast“ im
Singular steht während im englischen Original die „uninvited guests“ vermehrt
im Titel stehen. Ich weiß nicht ob es die unterschiedlichen Sichtweisen von
Autorin bzw. englischem Verlag und der deutschen Übersetzung zeigen soll, die
einerseits die vielen Eindringline, anderseits den Einen als prominentestes
Handlungselement sehen.
Ich fand dieses Buch hervorragend und kann es nur allen
empfehlen, die symbolträchtige Lektüren, bizarre Handlungselemente und eine
leichte Prise englischen schwarzen Humors bevorzugen.
Vielen herzlichen Dank an vorablesen.de und die Deutsche Verlags-Anstalt für das
Rezensionsexemplar
Nachtrag vom 19.9.2012: Gestern war ich bei einer Lesung von Sadie Jones in München, auf der sie ihr Buch vorgestellt hat. Ich habe sie - übrigens eine sehr sympathische und empathische Frau - gefragt, warum sie im Deutschen den Singular im Titel verwendet haben. Sie ist sehr auf meine Frage eingegangen und hat mir gesagt dass sie das auch erst eben erfahren habe und selbst nicht wisse warum, denn es ginge ja nicht nur um den einen, besonderen Gast (O-Ton: "Is it more important?"). Soviel dazu.
Nachtrag vom 19.9.2012: Gestern war ich bei einer Lesung von Sadie Jones in München, auf der sie ihr Buch vorgestellt hat. Ich habe sie - übrigens eine sehr sympathische und empathische Frau - gefragt, warum sie im Deutschen den Singular im Titel verwendet haben. Sie ist sehr auf meine Frage eingegangen und hat mir gesagt dass sie das auch erst eben erfahren habe und selbst nicht wisse warum, denn es ginge ja nicht nur um den einen, besonderen Gast (O-Ton: "Is it more important?"). Soviel dazu.
Meine Ausgabe:
Originaltitel: „The uninvited guests“
Verlag: DVA
Verlag: DVA
Erscheinungsjahr der Ausgabe: 2012
Erstausgabe: 2012
Seiten: 320
Seiten: 320
ISBN: 978-3421045553
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